Klingen, um in sich zu wohnen 2. Udo Baer
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Jedes Lied verbindet Text und Ton. Damit sind beim Hören wie beim Singen zwei Ebenen der Resonanz angesprochen: Die Poesie als Sprache des Erlebens und die Musik. Vielleicht ist das der Grund, warum zahlreiche Lieder bei so viele Menschen eine so hohe Resonanzwirkung hervorrufen oder warum so vielen Menschen gerade auf Lieder mit besonders großer Resonanzbereitschaft reagieren.
In einem Lied spricht die Stimme des Sängers oder der Sängerin. Viele fremdsprachige Lieder wirken allein über die Stimme. Diese erzählt Geschichten, auch wenn der Text nicht in der eigenen Sprache und dadurch unverständlich ist. Eine Stimme in einem Lied zu hören, hat die Wirkung: Jemand spricht zu mir. Die Wirkung der Stimme ist ein Angebot, eine Beziehung zu stiften. Nicht selten begegnen wir in der Therapie erwachsenen KlientInnen, die eine beziehungsähnliche Verbindung zu einzelnen LiedermacherInnen oder SängerInnen eingegangen sind. Sie identifizieren sich nicht unbedingt mit dem Liedermacher oder der Sängerin, wie oben in Bezug auf die Pubertät und Jugendzeit erwähnt, sondern fühlen sich von ihm oder ihr verstanden. Jede neue CD wird mit Spannung erwartet, hoffend, ja wissend, dass die neuen Lieder wieder ganz speziell sie als die ZuhörerInnen ansprechen werden.
Lieder beruhen auf dem Prinzip der Wiederholung. Die feste Strophenform, der zumeist eindeutige Reim und die Wiederholung des Wesentlichen im Refrain bieten einen sicheren Rückgriff, geben der Musik wie dem Text einen Rahmen und damit einen Halt. Die Wiederholung fördert, dass Texte und Melodien im Gedächtnis bleiben, und spricht vor allem die zahlreichen Menschen unter unseren KlientInnen an, die existenziell verunsichert sind und denen die Liedform Halt gibt. All dies macht ein Lied attraktiv zur Wiedererkennung und bietet die Möglichkeit eines sicheren Rückgriffs.
Die Bandbreite des Einsatzes von Liedern in der Musiktherapie ist sehr groß. Da werden in der biografischen Arbeit alte, schon vergessen geglaubte Lieder hervorgekramt, angehört und als Zugangsmöglichkeit zu verschüttetem Erleben genutzt. Da werden in der therapeutischen Gruppenarbeit von den TeilnehmerInnen Lieder angestimmt, um einem Gruppenmitglied Unterstützung zu signalisieren, Mut zuzusprechen oder Trost zu spenden. Da werden Lieder gesungen, um dem eigenen Erleben Ausdruck zu geben und diesen mit anderen Menschen zu teilen. In seinem Roman „Mister Aufziehvogel“ lässt Haruki Murakami einen Mann folgende Worte, die genau das illustrieren, „mit leiser, aber durchdringender Stimme“ (Murakami 2000, S.308) sprechen: „‚Wie Ihnen selbstverständlich allen bekannt ist’, (…) erleiden wir im Laufe unseres Lebens vielfältige Schmerzen. Körperliche Schmerzen und seelische Schmerzen. Ich weiß, dass ich in meinem Leben Schmerz in vielen verschiedenen Erscheinungsformen erlitten habe, und ich bin sicher, das Gleiche gilt für Sie. Ebenso sicher bin ich aber, dass es Ihnen in den meisten Fällen sehr schwer gefallen sein dürfte, einem anderen Menschen die Realität dieses Schmerzes zu vermitteln: ihn mit Worten auszudrücken. Man sagt, verstehen könne jeder nur den Schmerz, den er selbst empfindet. Aber ist das wirklich wahr? Ich zumindest glaube nicht, dass das zutrifft. Wenn wir jemanden sehen, mit eigenen Augen sehen, der wirklich leidet, erleben wir seinen Schmerz manchmal durchaus als den unsrigen. Das ist die Kraft des Einfühlungsvermögens. Drücke ich mich klar aus?’
Er unterbrach sich und sah sich noch einmal im Raum um.
‚Der Grund, warum Leute für andere Lieder singen, ist deren Wunsch, das Einfühlungsvermögen der anderen wachzurufen, aus der engen Hülse des eigenen Ich auszubrechen und ihren Schmerz und ihre Freude mit anderen zu teilen.’“ (a.a.O.)
Der Kollege und Musiktherapeut Martin Lenz komponiert und textet Lieder für Feiern in der psychiatrischen Klinik, in der er tätig ist. Zu Weihnachten schrieb er uns: „Ich hatte mir für dieses Jahr geschworen, kein Lied zu schreiben. Zu viele Verabschiedungssongs mussten in den letzten Wochen aus meinen humor-lyrischen Gehirnzellen gezeugt werden. Da wollte ich mal pausieren. Aber die KollegInnen hatten sich in meiner Abwesenheit für das Thema ‚Frieden’ für die Weihnachtsfeier entschieden und ich sollte ‚nur’ wieder die Lieder ‚zusammenstellen’. Hol’s der Teufel! Mir fielen nur Lieder wie ‚Für den Frieden der Welt steht die Menschheit auf Wacht’ oder ‚Kleine weiße Friedenstaube’ aus der Kampf- und Pionierliederkiste vergangener Tage oder christliche Friedenslieder sehr unterschiedlicher Qualität ein; vom wunderschönen „Dona nobis pacem“ bis zu eher frömmlichen Liedlein. Nichts passte für eine PatientInnen-Weihnachtsfeier in einer psychiatrischen Klinik. Da musste ich wieder ran …
Lasst euch recht herzlich grüßen von einem, dem es besser geht, wenn er sich morgens im Spiegel anlächelt.“ Und er schickte uns beiliegend folgendes Lied:
Ein anderer Kollege, Lutz Debus, arbeitet mit KlientInnen daran, eigene Lieder zu entwickeln (Debus 2002, S.47ff. und: Debus 2001).
Er bittet die KlientInnen, auf einem selbst gewählten Instrument ihre aktuelle Stimmung zu suchen und ausdrücken. In einem zweiten Schritt soll der erzeugte Klang notiert werden. Dabei wird keine Notenschrift benutzt, sondern Buchstaben, die comicartig und lautmalerisch die Klänge beschreiben. Damit wird eine erste Brücke zwischen Klang und Text geschaffen. „Ausgehend von der Verklanglichung des vorherrschenden Gefühls füllten die Teilnehmenden einige Seiten mit Assoziationen, Geschichtsfetzen, Bildern, ersten Dialogen. Nach der Verdichtung, der Dichtung des Gefühls, folgte also die Dehnung, die Weitung, die Raum schuf für kreative Gestaltung. Die so entstandenen Texte wurden größtenteils vorgelesen. Im nächsten Schritt ging es um Schritte. Schreitend konnten die Teilnehmenden auf dem Hintergrund ihrer bereits verfassten Texte dichten. Zunächst wählte jede/r eine Schrittfolge. Jemand trippelte durch den Raum, eine Teilnehmerin stampfte, eine schlich. Nach einigen Schritten hielten die Teilnehmenden inne, notierten eine Zeile, schritten weiter. So entstanden unweigerlich Rhythmus durchtränkte Texte. Nun mussten die fast fertigen Lieder nur noch mit Melodien und Harmonien versorgt werden.“ (Debus 2002, S.58)
Auch andere Wege zum eigenen Lied sind praktikabel. Der Ausgangspunkt kann eine Melodie sein oder ein Klang. KlientInnen können damit beginnen, Gedanken niederzuschreiben, die sie beschäftigen, Sätze, die für sie Bedeutung haben und daraus einen Liedtext produzieren, der irgendwann musikalisch begleitet wird. Ganz gleich, auf welchem Weg ein eigenes Lied entsteht, Hauptsache, es ist ein eigenes – damit ist der Entstehungsprozess ein Vorgang intensiven Erlebens mit Scham und Scheu, Stolz und Freude, eine Entdeckungsreise von außen nach innen und von innen nach außen. Ein Kollege, Ralf Hollnack, der musiktherapeutisch in der Forensik arbeitet, berichtet von einem solchen, auch ihn überraschenden Prozess:
„Ein 24 Jahre alter Patient kommt zum ersten Mal in die Musiktherapie. Er sitzt mit gebeugtem Rücken, die Hände und Füße sind ständig in Bewegung. Er möchte Rap singen – Freestyle Rap. Ich frage ihn, wie das denn geht. Er erklärt mir, dass er spontan Texte improvisieren will, aber einfach nicht in den Rhythmus hineinkommt. Ich bitte ihn, doch einen Rhythmus zu klatschen, der ihm gefällt. Er beginnt, ich übernehme den Rhythmus, er beginnt zu sprechen. Er wirkt sehr angestrengt, deshalb biete ich ihm an, sich dazu zu bewegen. Er beginnt, auf und ab zu gehen, ich klopfe den Rhythmus weiter auf dem Gitarrenkorpus, improvisiere dann eine Basslinie über diesem Rhythmus. Jetzt sprudeln die Worte aus ihm heraus. Ohne Punkt und Komma