Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom

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Existenzielle Psychotherapie - Irvin D. Yalom EHP-Edition Humanistische Psychologie

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(das heißt, dass er das Höhere in Begriffen des Niederen erklärte) und seinen Determinismus (das heißt den Glauben, dass alles geistige Funktionieren durch identifizierbare Faktoren, die bereits bestehen, verursacht wird).

      Die verschiedenen existenziellen Analytiker stimmten in einer grundlegenden Verfahrensfrage überein: Der Analytiker muss sich dem Patienten auf phänomenologische Weise nähern; das heißt, er oder sie muss in die Erfahrungswelt des Patienten eintreten und auf die Phänomene in dieser Welt achten ohne die Vorannahmen, die das Verständnis verzerren. Wie Ludwig Binswanger, einer der bekanntesten existenziellen Analytiker, sagte: »Es gibt nicht nur einen Raum und eine Zeit, sondern ebenso viele Räume und Zeiten wie es Subjekte gibt.«15

      Abgesehen von ihrer Reaktion auf Freuds mechanistisches, deterministisches Modell des Geistes und ihrer Annahme von einer phänomenologischen Vorgehensweise in der Therapie, haben die existenziellen Analytiker wenig Gemeinsames und wurden nie als eine zusammenhängende ideologische Schule betrachtet. Diese Denker – u. a. Ludwig Binswanger, Medard Boss, Eugene Minkowsky, Victor Emil von Gebsattel, Roland Kuhn, Igor Alexander Caruso, Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Gustav Bally und Viktor Frankl – waren fast vollständig unbekannt in der amerikanischen psychotherapeutischen Gemeinschaft, bis Rollo Mays sehr einflussreiches Buch Existence aus dem Jahr 1958 (und darin besonders die Einleitung16) – deren Werk in den USA einführte.17

      Heute jedoch, mehr als zwanzig Jahre nach Mays Buch, ist es erstaunlich, dass diese Persönlichkeiten wenig Einfluss auf die amerikanische psychotherapeutische Praxis ausüben. Sie bedeuten kaum mehr als die unbekannten Gesichter auf einer vergilbten Daguerreotypie im Familienalbum. Teilweise geht diese Vernachlässigung auf eine Sprachbarriere zurück: Abgesehen von einigen Schriften von Binswanger und Frankl wurden diese Philosophen selten übersetzt. Größtenteils liegt es jedoch an der abstrakten Natur ihrer Schriften: Sie sind durchdrungen von der philosophischen Weltanschauung [im Original deutsch] der alten Welt, die überhaupt nicht synchron mit der amerikanischen pragmatischen Tradition in der Therapie verläuft. Deshalb bleiben die existenziellen Analytiker aus der Alten Welt verstreute und größtenteils außerhalb Europas aus den Augen verlorene Vettern des existenziellen Therapieansatzes, den ich zu beschreiben beabsichtige. Ich beziehe mich nicht sehr eingehend auf sie mit Ausnahme von Viktor Frankl, einem hervorragenden pragmatischen Denker, dessen Werk größtenteils übersetzt wurde.

      Humanistische Psychologen: Auffällige amerikanische Vettern

      Der europäische existenzielle analytische Trend entstand sowohl aus dem Wunsch heraus, philosophische Konzepte auf ein klinisches Studium der Person anzuwenden als auch als Reaktion auf Freuds Modell des Menschen. In den Vereinigten Staaten begann eine analoge Bewegung in den späten Fünfziger-Jahren zu brodeln, sie tauchte in den Sechziger-Jahren auf und vereinigte sich und schoss plötzlich in den siebziger Jahren nach allen Richtungen hin los.

      Die amerikanische Psychologie war in den Fünfziger-Jahren lange von zwei führenden ideologischen Schulen beherrscht. Die erste – und bei weitem die am längsten vorherrschende – war ein wissenschaftlicher positivistischer Behaviorismus; die zweite war die Freudsche Psychoanalyse. Eine schwache Stimme, von der man zuerst in den späten Dreißiger- und Vierziger-Jahren hörte, stammte von abweichenden sozialen Psychologen, die unbehaglich in der Bastion experimenteller Psychologen nebeneinander existierten. All mählich wurde es jenen Persönlichkeitstheoretikern (zum Beispiel Gordon Allport, Henry Murray und Gardner Murphy, und später George Kelly, Abraham Maslow, Carl Rogers und Rollo May) bei den Begrenzungen sowohl der behavioristischen als auch der analytischen Schule unbehaglich. Sie hatten das Gefühl, dass diese beiden ideologischen Persönlichkeitsansätze einige der wichtigsten Qualitäten ausschlossen, die das menschliche Wesen ausmachen – zum Beispiel Wahl, Werte, Liebe, Kreativität, Selbstbewusstheit, menschliches Potenzial. Im Jahr 1950 etablierten sie formal eine neue ideologische Schule, die sie »Humanistische Psychologie« nannten. Die Humanistische Psychologie, manchmal als »Dritte Kraft« in der Psychologie bezeichnet (nach dem Behaviorismus und der Freudschen analytischen Psychologie), wurde zu einer stabilen Organisation mit wachsenden Mitgliederzahlen und jährlichen Versammlungen, die von Tausenden von Professionellen für geistige Gesundheit besucht wurden. Im Jahr 1961 gründete die American Association of Humanistic Psychology das Journal of Humanistic Psychology, unter deren Herausgeberschaft so allgemein bekannte Persönlichkeiten wie Carl Rogers, Rollo May, Lewis Mumford, Kurt Goldstein, Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Aldous Huxley und James Bugental aufgeführt wurden.

      Die flügge gewordene Organisation machte einige erste Versuche, sich selbst zu definieren. 1962 wurde formal festgestellt:

      Die Humanistische Psychologie beschäftigt sich vor allem mit jenen menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die kaum einen oder keinen systematischen Ort haben, weder in der positivistischen oder behavioristischen Theorie, noch in der klassischen psychoanalytischen Theorie: zum Beispiel Liebe, Kreativität, Selbst, Wachstum, Organismus, Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, Selbstaktualisierung, höhere Werte, Natürlichkeit, Wärme, Ich-Transzendenz, Objektivität, Autonomie, Verantwortlichkeit, Bedeutung, Fairness, transzendentale Erfahrung, psychologische Gesundheit und verwandte Konzepte.18

      Im Jahr 1963 schlug der Präsident der Vereinigung, James Bugental, fünf grundlegende Postulate vor:

      1. Der Mensch ist als Mensch mehr als die Summe seiner Teile (das heißt, man kann den Menschen nicht aufgrund wissenschaftlicher Studien von Teilfunktionen verstehen.)

      2. Der Mensch hat sein Dasein in einem menschlichen Kontext (das heißt, man kann den Menschen nicht aufgrund von Teilfunktionen verstehen, die die zwischenmenschliche Erfahrung ignorieren.)

      3. Der Mensch ist bewusst (und kann nicht verstanden werden durch eine Psychologie, die die kontinuierliche vielschichtige Selbstbewusstheit des Menschen nicht anerkennt.)

      4. Der Mensch hat Wahlmöglichkeiten (der Mensch ist kein Zuschauer seiner Existenz; er schafft seine eigene Erfahrung.)

      5. Der Mensch ist intentional19 (der Mensch weist auf die Zukunft; er hat Zweck, Werte und Sinn.)20

      Vieles in diesen frühen Manifesten – Anti-Determinismus, die Betonung der Freiheit, Wahl, Zweck, Werte, Verantwortung, die Verpflichtung gegenüber der Wertschätzung der einzigartigen Erfahrungswelt jedes Individuums – ist von großer Bedeutung für den existenziellen Bezugsrahmen, den ich in diesem Buch darstelle. Das amerikanische Gebiet Humanistischer Psychologie ist jedoch keinesfalls synonym mit der existenzialistischen Tradition auf dem Kontinent; es gibt einen wesentlichen Unterschied in der Akzentsetzung. Die existenzialistische Tradition in Europa hat immer die menschliche Begrenztheit und die tragischen Dimensionen der Existenz betont. Vielleicht ist das so, weil die Europäer vertrauter sind mit geografischen und ethnischen Einschränkungen, mit Krieg, Tod und einer ungewissen Existenz. Die Vereinigten Staaten (und die Humanistische Psychologie, die sie hervorbrachten) badeten in einem Zeitgeist [im Original dt.] des Expansionsdrangs, des Optimismus, der grenzenlosen Horizonte und des Pragmatismus. Folglich ist die importierte Form des existenzialistischen Gedankenguts systematisch geändert worden. Jeder der grundlegenden Glaubenssätze hat einen ausdrücklichen Akzent der Neuen Welt. Der europäische Fokus liegt auf den Grenzen und darauf, dass man sich der Angst vor Unsicherheit und Nicht-Sein stellen und diese annehmen muss. Die humanistischen Psychologen andererseits sprechen weniger von Grenzen und Kontingenz als von der Entwicklung des Potenzials, weniger von Akzeptanz als von Bewusstheit, weniger von Angst als von Gipfelerlebnissen und ozeanischem Einheitsgefühl, weniger von dem Sinn des Lebens als von Selbstverwirklichung, weniger vom Fremdsein und der grundlegenden Isolierung als von Ich-Du und Begegnung.

      In den Sechziger-Jahren verschlang die Gegenkultur mit ihren sie begleitenden sozialen Phänomenen – wie die Bewegung der Redefreiheit, die Blumenkinder, die Drogenkultur, die Human Potential Bewegung, die sexuelle Revolution – die humanistische

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