Lockvogel. Therese Kersten

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Lockvogel - Therese Kersten

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hat jedoch die Kernaussage zu ihm, weil sie ins Heute reicht und für zahlreiche der Spezialisten, die ich Ihnen nun mit all ihren Besonderheiten (und dabei wieder Alltäglichkeiten) näherbringen möchte, nach wie vor Gültigkeit hat. Ein Zitat, das Bonaparte zugeschrieben wird und an aktuellem Bezug und Treffsicherheit kaum überbietbar scheint.

      Wie also sagte Napoleon Bonaparte einst über Talleyrand?

      Ein Haufen Scheiße in Seidenstrümpfen.

      WARE LIEBE

      Was lässt einen Menschen seine Haut zu Markte tragen? Einen so jungen Menschen obendrein? Ein Mädchen von gerade mal 19 Jahren? Aus gewöhnlichen Verhältnissen. Durchschnitt. Weder ganz oben, noch ganz unten.

      Was ist das überhaupt? Ganz oben? Ganz unten?

      Die Eltern jedenfalls nicht verheiratet. Und auch nicht länger zusammen. Seit Gedenken. Genau genommen seit das Mädchen fünf ist. Seit ich fünf bin. Der Patchwork-Klassiker: Aufwachsen bei der Mutter. Mit sechzehn die erste Wohnung. Nun ja, etwas früh vielleicht in mancher Leute Augen. Mit 19 zurück in den elterlichen Schoß. Gewissermaßen. Diesmal ein Leben beim Vater. Im selben Haus mit seiner neuen Familie und den Großeltern.

      Ein Zuhause, das mir nie wirklich eines gewesen ist. Dennoch alles im Rahmen. Keine bewegenden Probleme, die ein Mädchen, eine junge Frau von 19 Jahren aus der Spur werfen, in solche Bahnen lenken, sie diesen Schritt setzen lassen würden.

      Es ist nur wie eBay. Nichts weiter.

      Nur wie eBay.

      Aber ja, sage ich mir, während ich wie besessen auf meinen Schoß starre. Aber ja. Menschen stellen allerlei Verrücktheiten an, wenn der Tag lang und die Mischung aus Phantasie und Durchsetzungsvermögen begrenzt ist. Sie machen sich abhängig. Von anderen Menschen. Von überzogenen Vorstellungen. Von Wünschen, deren Preis zu hoch ist. Sie arbeiten viel zu viel für viel zu wenig Geld. Sie tun es für die grundfalschen Leute. Sie begeben sich in prekäre Umstände.

      Wir schreiben das Jahr 2009. Ein Frühfrühlingstag.

      Prekäre Umstände, Therese? Aber es ist doch bloß … es ist nur wie eBay. Nichts weiter. Nur wie eBay.

      Die Wiederholung, weiß ich in der Theorie, macht das Falsche nicht richtiger. Dennoch sage ich es mir wieder und wieder vor. Gebetsmühlenartig. Das beruhigt. An der Oberfläche. Darunter brodelt es. Wofür immer es steht. Andere tun es auch. Kein Abschaum. Menschen wie du und ich. Aus oftmals behüteteren Häusern. Haben die auch alle denselben Schaden, den mir manche nachsagen? Weil man das nicht macht, unter normalen Umständen? Dabei will ich doch nur eines: raus.

      Weil all das nichts für mich ist. Weil der Traum anderer Leute, schon mit zwanzig felsenfest zu wissen, wo sie mit fünfzig stehen, mein Alptraum ist. Dreißig Jahre derselbe Job. In derselben Firma. Von da weg nur noch fünfzehn bis zur Rente. Dreißig Jahre dieselbe biedere Kleinstadt. Und mit fünfzig? Ende Gelände.

      Oh nein, Therese. Du musst da raus. Bloß, du hast kein Geld. Weil du die 800 monatlich, die du als Polizeischülerin bekommen hast, jetzt eben nicht mehr bekommst. Weil du aufs Wirtschaftsgymnasium gehst und von dem Bisschen abhängst, das man dir gibt. Du musst da raus. Weil du erst 19 bist. Weil du ein Leben vor dir haben willst. Und nicht eines, das in Gedanken bereits hinter dir liegt. Weil das Abenteuer ruft. Weil du das Reisen, das Unterwegssein in den Genen hast. Weil du am Jagdfieber leidest.

      Darum, Therese, tust du es. Darum hast du diesen Schritt gesetzt. Und nicht, weil du ein verkommenes Miststück bist, wie manche leichtfertig meinen könnten.

      Es ist nur wie eBay. Nichts weiter. Nur wie eBay.

      Rein technisch gesehen ist es das allemal. Der Gedanke kühlt mir die Hitze, senkt mir den Puls, hat etwas Beschwichtigendes. Rein technisch gesehen ist es nichts anderes. Wie eBay. Die einen bieten an. Die anderen kaufen.

      Tack. Tack. Tack.

      Ein Frühfrühlingstag im Spätmärz. Die Kräfte der Sonne steigen, sind allgegenwärtig. Die Großwetterlage ist stabil. Und der Mikrokosmos? Weniger. Draußen schlagen die ersten Bäume aus. Auch hier drinnen, in diesem miefigen Raum mit zwei Dutzend Leidensgenossen, ist das Wurzelwerk in Bewegung. Ringsum beginnen sie, nervös auf ihren Stühlen zu wetzen. Auch mich hält es kaum noch. Mittagszeit. Das Hungergefühl ist raumgreifend. Nur nicht in mir. Von Hunger keine Spur. Stattdessen ein Gefühl schaler Übelkeit, das in mir emporsteigt. Denn von jetzt weg gerechnet sind es nur noch exakt vier Stunden, siebenundzwanzig Minuten und … Therese, verdammt. Worauf hast du dich da eingelassen? Wie kannst du dich nur selbst versteigern?

      Worte wehen heran, nur ein paar Schritte entfernt, losgeschickt vom anderen Ende des Raumes, und doch endlos distanziert. Lehrende, bisweilen belehrende Worte. Sie wehen heran. Sie wehen an mir vorüber. Sie verwehen. Unverstanden. Wie nicht gehört. Wie gar nicht erst gesagt. Die Unruhe ist mit allen Sinnen spürbar, hängt greifbar über mir, klebt mir an der Haut.

      Das Einzige, was in mir, an mir noch ruht, ist mein Blick. Er ist stet, liegt in meinem Schoß. Auf dem, was ich fahrig, klammheimlich zwischen den Fingern hin und her gleiten lasse, was mit meinen zappeligen Beinen auf- und abspringt. Ein Gustostückerl technischer Raffinesse dieser Tage ist es, auf das ich hinabstiere. Das Google-Handy. Brandnew. Generation eins. Der Dernier Cri auf dem Handymarkt. Voll internettauglich. Und seit wenigen Wochen mein.

      Echt scharf. Echt sündhaft teuer.

      Ich hebe den Kopf, senke ihn in der Sekunde. Wie besessen starre ich aufs Display. Seit Wochen nun schon. Vormittag um Vormittag. Und mit jedem verstrichenen Tag, mit jeder Veränderung oder Nicht-Veränderung öfter. Länger. Intensiver. Wie besessen tippe ich manchmal auch darauf ein. Wie nun.

      Was dort vorne nach Aufmerksamkeit heischt, ist nicht länger meine Welt. Nicht jetzt wo es darauf ankommt. Wo es ins Finale geht. Wo es gilt. Längst bin ich wieder dort. Anderswo. Weit weg in Gedanken. An einem fernen Ort, der World Wide Web heißt, verkrochen in einem seiner endlos vielen Schlupfwinkel, der über mich urteilt. Dessen User über mich richten. Über meinen Wert. Meinen alles andere als fiktiven Wert.

      Tack. Tack. Tack.

      Wie wird es sein? Wer wird es sein? Wann? Wo? Um welchen Preis? Wem bin ich wie viel wert?

      Ich spüre die sanfte Schweißschicht meiner Hände. Spüre das latente Zittern der vergangenen Tage allmählich zu einem Beben aufwallen. Es ist nicht länger beherrschbar. Spüre das Rauschen in mir. Oh ja, verdammt, und wie es rauscht. Was immer es ist. Ach, das habe ich auch schon? Egal. Denn dieses Es ist mehr als ungewiss. Doch es ist da, rauscht und tobt. Wie spät ist es? 13 Uhr? Dabei ist dieser Augenblick der Entscheidung doch gerade erst ein endlos ferner gewesen.

      Zwei Wochen ist es her. Und jetzt? Wo es doch nur wie bei eBay ist?

      Jetzt.

      Jetzt heißt dieser Augenblick, der mir Gewissheit verschaffte über einen bizarren Wert, der mich auf einmal ausmachen soll. Und, ja, auf gewisse Weise tatsächlich ausmacht. Wenigstens in anderer Leute Augen. Doch auf seltsame Art, wie mir bewusst wird, auch in meinen eigenen. Jetzt wird mir als Zahl erscheinen. Ein nacktes Zifferngebilde. Nichts weiter. Und doch wird mich diese Zahl definieren. In wenigen Stunden schon. Wie viele?

      Oh mein Gott.

      Vier Stunden, dreiundzwan… Es ist nur eine Zahl, Therese. Eine schlichte Zahl, die am Ende der Zeit auf einem Bildschirm aufblinken wird. Sonst nichts. Wirklich, sonst nichts?

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