Lockvogel. Therese Kersten
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Beruhige dich, Therese. Zwei Wochen, denke ich, stöhne halblaut auf und ziehe ein sanftes Nicken auf mich. Nachgereicht die bestätigenden Blicke meiner Sitznachbarin. Was sie nicht weiß: Ihre Gründe zu stöhnen sind allein der an Mattigkeit und schalem Beigeschmack kaum zu übertrumpfenden Szenerie dort vorne geschuldet und grundlegend andere. Vor zwei Wochen, denke ich. Meine Güte. In zwei Wochen erfinden Menschen meines Alters die Welt tausendmal neu.
Tack. Tack. Tack.
Unausgesetzt liegt der Blick auf meinem Schoß. Dort, wo seit ein paar Wochen über mich und meinen reellen Wert befunden wird. In unterschiedlichem Takt. Mal tagelang nichts. Dann wieder geht es hin und her. Wie Pingpong. 300. 400. 600. Abermals 50 oben drauf. Noch vier Stunden, dreiundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden.
Zwei Wochen.
Eine völlig ungewisse Zukunft für eine junge Frau mit Vergangenheit. Ja, sage ich mir. Das bist du. Ein Mädchen, eine junge Frau mit Vergangenheit. Jetzt schon, gerade mal 19. Doch bestimmt keine von denen. Nein, Therese, das bist du nicht. Du bist kein Miststück. Welcher Teufel, verdammt noch mal, hat dich da geritten?
Du bist keine von denen.
Dennoch eine junge Frau, ein Mädchen auf Abwegen. Abgründe würden sie sagen. Sie. Die Kollegen ringsum? Die nicht zwingend. Die Kolleginnen allemal. Der Schlampenfaktor unter uns Frauen. Und wenn es breiter die Runde machte? Wenn es von Haus zu Haus ginge? Hier, in dieser kreuzbiederen Kleinstadt Schönebeck? Du könntest dich nicht mehr blicken lassen.
Scheiß drauf.
Und Mama? Wäre sie entsetzt? Mama vielleicht. Papa ganz bestimmt. Und Anna? Ja, auch sie. Anna, die beste Freundin, auf den Tag genau zwei Jahre jünger. Ich sehe ihr leicht pausbackiges Gesicht. Sehe sie nach Luft schnappen, vor blankem Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich sehe mich sie anlügen. Es würde unausweichlich sein. Und doch, sage ich mir, habe ich keine andere Wahl. Jetzt nicht mehr.
Nein?
Natürlich hast du! Immer noch kannst du es canceln. Einfach »Stopp« sagen. Als wäre nichts gewesen. Bestimmt würdest du Storno zahlen müssen. Na und? Würdest du überhaupt? Wie war das gleich nochmal mit den AGB? Außer Spesen nichts … Du kannst es immer noch stoppen, Therese. Noch ist Zeit. Vier Stunden und wie viel …? Vier Stunden und noch irgendwas. Vier Stunden, Therese, sind nicht bloß eine Last. Nein. Sie sind auch eine Chance.
Ich blicke kurz hoch wie zur Bestätigung, dass der Typ dort vorne nicht Wichtiges von sich gibt. Nein. Keine Gefahr. Er ist weiterhin gefangen in seinem eigenen Universum, das nicht das meine ist. Der Blick wieder hinab. Vertraute Bilder, Icons, Einträge funkeln empor. Der knallorange Balken zuoberst. Startseite. Verkaufen. Login. Registrieren. Hilfe. Impressum. Presse. Die diversen Kategorien. Räume. Reisen. Bilder. Kunst gibt es auch. Kunst. Zwischendrin Einträge, die mit dem Kamasutra kokettieren. Dann wieder Werbung. Statistiken.
Alles wie bei eBay.
Nur eben um den Tick krasser. Und anstelle Biedermann und Söhne, anstelle von Haus und Garten, Technik, Musik, Games, Filme, und natürlich – für die Männer – Auto und Motorrad, anstelle von alledem das Kontrastprogramm. Für ihn.
Aber auch für sie.
Ich starre auf die Empfangsdame der Site im linken oberen Eck. Ihr fliegendes, feuerrotes Haar. Ihr eines zum koketten Zwinkern zugedrücktes Auge. Ihre spindeldürren, abgespreizten Finger. Ihre nackten, prallen Dinger mit den abspringenden Warzen, die dir sofort im Profil entgegenhüpfen wie eine dieser Jumping-Jack-Springfiguren. Hüftabwärts endet der Körper, sitzt auf einem grauen Schildchen mit dem Namen der Site. Das alles wie die Momentaufnahme eines Comicstrips. So, als wäre alles, was dahinter, alles, wofür die Zeichnung steht, diese Verballhornung aus Comic und Strip, gar nicht ernst gemeint.
Ich starre auf diese … ja, was? Ikone? Sie verschwimmt mir vor Augen, den äußeren, und räumt den Blick frei für die inneren. Bilder wehen heran. Lachhafte zwei Wochen und ein paar Tage alte Bilder, als das alles begonnen hat. Es.
Ich sehe mich auf dem Bett liegen, im ersten Stockwerk des Hauses meines Vaters. Unschlüssig, was zu tun ist. Wohin mich das Leben treibt. Wohin ich das Leben treibe. Je nachdem. Sehe die Jahre vorüberfliegen. Zwei, drei Jahre wie im Turbowaschgang. Erst die Jahre der absoluten Strenge. Dann der Entschluss: Ich will Polizistin werden.
Die Ausbildung? In Berlin.
Wow. Berlin. Zwei Jahre wie eine einzige große Explosion. Erst gar nichts. Dann alles. Das pralle Leben. Berlin empfängt mich mit offenen Armen. Was vorher strikt untersagt war, ist jetzt Programm. Geradezu Pflicht. Die Nächte in den Clubs. Mit 16 überall reinkommen, wo es nicht erlaubt ist. Weil so ein Polizeiausweis entscheidend hilft. Auch wenn du noch in der Ausbildung bist. Die vielen Clubs. Die vielen Stands im Gefolge. Fast ausnahmslos One Night. Fast ausnahmslos bedeutend ältere Männer. Ist es, weil mir ein Vater gefehlt hat über die Jahre? Ich weiß es nicht. Bloß, dass keiner von ihnen mir je etwas bedeutet hat. Nicht über den Moment hinaus.
Und dann, irgendwann, der Entschluss, die Polizeiausbildung sein zu lassen. Weil die Bilder des Ausblicks in mir übermächtig werden. Weil ich wieder diesen Alptraum vor Augen habe. Mich selbst. Mit fünfzig. Als Polizeimeisterin, was weiß denn ich. Und den immer selben Job. In der immer selben, biederen Kleinstadt mit seinen immer selben, gezirkelten Vorgärten und den immer selben, identen Fassaden. Wo immer. Wie immer. Aber auf jeden Fall: Ende Gelände.
All das sehe ich, während mir die Zeit erbarmungslos zwischen den Fingern zerläuft und ich die Minuten herunterzähle.
Tack. Tack. Tack.
Wieder Bilder von vor zwei Wochen. Zweieinhalb vielleicht. Ich sehe mich am Fenster meines Wohnzimmers stehen. Sitzen. Eine um die andere rauchend. Ich sehe das Gesicht meines Vaters. Die Enttäuschung, die darin geschrieben steht, weil ich die Ausbildung habe sausen lassen. Zugleich aber auch den Hoffnungsschimmer, weil ich wenigstens weitermache. In der Wirtschaftsschule, wo sie mich auch mitten im Schuljahr haben einsteigen lassen. Wegen meiner ansprechenden Noten zuvor.
Ich sehe Berlin. Das kunterbunte Leben, das ich dort zwei fantastische Jahre lang habe führen dürfen. Mein Dasein als Single mit Anschluss. Sehe sie schemenhaft herauftauchen, meine Affären für eine Nacht. Viele von ihnen so bedauernswert, dass sie … ja, dass sie wenigstens dafür hätten bezahlen sollen. Müssen.
Ich sitze auf meinem Stuhl, blicke hinab auf mein brandneues Google-Handy, auf den knallorangen Balken der Startseite, sehe ihn vor meinen Augen fortwummern und sehe stattdessen mich. Sehe mich mit dem Fahrrad fahren. Nachhause vom Unterricht. Hinein in die Vorboten des Frühlings. Sehe die grelle, bunte Vielfalt, die ringsum erwacht. Die sprießenden Gräser und Blumen. Höre das muntere Gezwitscher der Vögel. Ein Erwachen überall, wohin die Sinne nur reichen.
Doch ich weiß, es ist ein Erwachen ohne mich.
Berlin. Ja. Das war das prall gefüllte Leben. Eines mit vielen Menschen. Mit Trubel an jeder Ecke. Mit der Spree, an der ich so gerne spazieren gegangen bin. Ein Leben mit vibrierender Großstadtluft. Und auch eines mit Sex. Viel Sex.
Und jetzt? Würde eine Beziehung etwas daran ändern? Würde sie Farbe in mein Grau bringen? Wenigstens dem Sex will ich nicht mir nix dir nix entsagen. Hallo? Ich bin 19. Und ich liebe das Leben. Aber hier? In der Kleinstadt? Und vor allem, ohne mich gleich fix binden zu müssen. Weil mir genau danach so gar nicht der Sinn steht. Keine zwei Monate, sage ich mir, und du bist das Gesprächsthema. Im Supermarkt an der Ecke. Von Gartenzaun zu Gartenzaun.
Zwangsläufig.