Klingen, um in sich zu wohnen 1. Udo Baer
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Eine Klientin bzw. ein Klient oder die TeilnehmerInnen einer Gruppe bekommen die Aufgabe:
„Stellen Sie sich eine eigene Musikkassette oder eine eigene CD mit dem Titel ,Mein Leben’ zusammen. Diese CD sollte chronologisch angeordnet sein, also mit der Zeit um Ihre Geburt herum beginnen und bis heute reichen. Sie kann musikalische Aufnahmen enthalten, die für Sie in bestimmten Lebensphasen wichtig waren, oder Musikstücke, die für einen bestimmten Zeitabschnitt ihres Lebens ,stehen’.“
Um diese Arbeit zu leisten und solch ein musikalisches Lebenspanorama zu erstellen, braucht es mindestens vier Wochen Zeit. Der Zeitraum ist nicht nur notwendig für die technischen und organisatorischen Tätigkeiten (Musikstücke suchen, sie aufnehmen usw.), sondern vor allem für den inneren Prozess der Beschäftigung mit dem bisherigen Leben und der musikalischen Biografie. Oft entstehen schnell erste Ideen, verändern sich dann aber, anderes kommt hinzu, manches wird weggelassen. Unbeachtetes tritt gewichtig und tönend in den Vordergrund, „zufällig“ begegnet man der Musik, die „passt“.
Diese Arbeit kann die Intensität und die Mühe annehmen, die mit dem Schreiben eines biografischen Romans vergleichbar sind. Nicht nur die Erinnerung an vergangene Zeiten, sondern gerade auch an das Erleben, das in diesen Zeiten vorherrschend war bzw. mit diesen Zeiten verknüpft ist, wird wieder lebendig.
Die CD bzw. MC, die aus diesem Prozess heraus entsteht, ist häufig ein buntes Stil-Durcheinander. Da steht die Operetten-Melodie, die sonntagnachmittags beim gemeinsamen Fernsehschauen mit den Eltern erklang und diese Zeit repräsentiert, neben dem Jimmy Hendrix der aufbrechenden Jugendzeit. Da hört man John Cage für die Schlusszeit der ersten Ehe („Da gab es keine Musik“) neben den Kinderliedern des Gripstheaters, die man mit den eigenen Kindern geschmettert hat. Da repräsentieren harte Punkstücke die Studienzeit („Bis die Prüfungen begannen“) und die Ouvertüre der Zauberflöte die frühe Kindheit („Meine ersten Jahre waren wie Mozart, bis wir umzogen“).
In der Arbeit an der Kassette oder CD „Mein Leben“ erklingt das eigene Leben. Klänge, Bilder, Gefühle, Erfahrungen werden lebendig, ziehen an den KlientInnen vorbei und berühren sie. Diese Erfahrung kann schmerzhaft sein oder beglückend, in jedem Fall ist sie ein wichtiger Erlebnis- und Erfahrungsprozess. Manche KlientInnen berichten, sie hätten ihr Leben „neu sortiert“. Andere sagen: „Ich habe mich gehört und ich habe mir wirklich zugehört.“
Damit dieser Erfahrungs- und Arbeitsprozess nicht uferlos wird, bedarf es eines Rahmens. Es hat sich bewährt, einen Zeitrahmen zu setzen, in dem die CD oder MC erstellt werden muss, auch wenn sie der Klientin oder dem Klienten dann noch unfertig erscheint. Und es hat sich ferner als günstig erwiesen, für das Volumen der aufgenommenen Musikstücke einen Rahmen zu setzen. Sinnvoll sind unserer Erfahrung nach etwa 60 Minuten (auch wenn manche KlientInnen dann noch bis 90 Minuten „überziehen“: „Das ging nicht anders …“ – was dann ja in Ordnung ist).
Ein solch aufregender Prozess bedarf der Spiegelung. KlientInnen haben etwas erstellt, haben damit sich, ihr Leben und Erleben präsentiert und hörbar gemacht. Nun wollen sie, dass andere es hören, und sind manchmal gleichzeitig scheu oder ängstlich, was denn die anderen dazu meinen, ob das, was sie selbst erstellt haben, überhaupt zumutbar ist usw. Die Einzeltherapie oder die therapeutische Arbeit in der Gruppe ist hierfür ein geeigneter geschützter Rahmen. Wenn Klientinnen oder Klienten hier nach und nach ihre musikalische Biografie vorspielen, hören Therapeut oder Therapeutin bzw. auch die anderen GruppenteilnehmerInnen vieles aus deren Leben. Dies bedarf des Interesses und der Zeit und ist nie Sache nur einer Therapiestunde bzw. einer einzigen Aktion. Die musikalische Biografie bietet so viel reichhaltiges Material, dass auch später an sie angeknüpft und mit ihr auf verschiedene Art und Weise weiter gearbeitet werden kann.
2.2 The best of
Auch der folgende Weg ist methodisch wie unser erster Vorschlag eine Panoramatechnik. Das Panorama ist ein Bild, über das man den Blick schweifen lassen kann, in der Malerei zumeist die große und breite Ansicht einer Landschaft oder eines historischen Ereignisses, z. B. einer Schlacht. Der Blick kann, wie gesagt, schweifen, hier oder dort verweilen, einmal diesen und einmal jenen Aspekt genauer in Augenschein nehmen. Wie bei der eben beschriebenen Methode lädt auch die folgende Methode dazu ein; im feinen Unterschied zur vorherigen, die Leben und Erleben musikalisch umgesetzt wissen wollte, liegt hier der Fokus eindeutig auf der musikalischen Biografie. Wir fordern z. B. die TeilnehmerInnen einer Gruppe auf:
„Legt eine Liste an und sammelt in den nächsten Wochen zehn Ereignisse, Musikstücke oder Gegenstände aus eurer musikalischen Biografie und schreibt sie auf. Das können Erinnerungen sein, die mit eurer musikalischen Biografie in Verbindung stehen, oder Musikstücke, die ihr gespielt oder gehört habt, die euch in irgendeiner Weise wichtig waren, Instrumente oder Gegenstände, die ein musikalisches Ereignis repräsentieren. Bringt dann drei davon mit – sozusagen ,the best of …’. Wählt also aus, welche drei euch am wichtigsten sind. Bringt die Musik z. B. auf Kassette oder CD mit, so dass ihr sie hier vorspielen könnt, oder bringt die Gegenstände mit, die mit einem Ereignis verbunden sind.“
Auch hier ist es wichtig, Zeit zu lassen und gleichzeitig einen Rahmen vorzugeben. Die KlientInnen oder GruppenteilnehmerInnen denken häufig, dass ihnen keine zehn Musikstücke oder Ereignisse einfallen, doch dann, wenn sie erst einmal angefangen haben, ihr Gehör, ihren Blick, ihre Erinnerungen schweifen zu lassen, kommt eins zum anderen, fällt ihnen viel mehr ein, als sie vorher vermutet haben. Schwierig – und besonders wichtig – ist dann der Prozess, die drei wichtigsten Musikstücke, Ereignisse etc. (The best of) auszuwählen. Was ist nur nette Erinnerung und was hat wirklich Bedeutung für mich und mein Leben – diese Fragen gilt es zu beantworten. Das Spektrum der Musikstücke, die ausgewählt werden, ist ähnlich breit, wie vorhin beschrieben. Auch die Gegenstände, die mitgebracht werden, sind sehr unterschiedlich, manche haben unmittelbaren musikalischen Bezug, z. B. das Instrument oder der alte kaputte Geigenbogen („mein erster“). Bei anderen erschließt sich der Zusammenhang mit der musikalischen Biografie erst durch die kommentierenden Erzählungen, wie z. B. beim FDJ-Hemd, das an einen erzwungenen Auftritt erinnert, oder dem Foto der Oma („… die mir die ersten Lieder beigebracht hat“).
Die Teilnehmerin einer Fortbildungsgruppe bringt zur Arbeit mit ihrer musikalischen Biografie drei Erlebnisse, die Bedeutung für sie haben, mit. Mit ca. 5 Jahren, erinnert sie sich, an der Seite ihres Vaters ein Konzert eines Knaben-Chores besucht zu haben und dabei fast implodiert zu sein vor Erregung und Begeisterung. Als etwas größeres Mädchen – dieser Erinnerung gibt sie ebenfalls entscheidende Bedeutung – sang sie während einer musikalischen Theateraufführung in der Schule ein kesses Lied. Die dritte wichtige musikalische Station erlebte sie erst vor kurzem: Da sang sie Lieder von Friedrich Holländer in der Kirche! Nun, in der Gruppensituation, erzählt sie diese drei Erlebnisse, lässt die anderen teilhaben an ihrer kindlichen Bewunderung für den Knabenchor, singt das kesse Lied aus der Schulzeit und ein Lied von Hollaender. Die Therapeutin sagt: „ Darf ich dir etwas über mich mitteilen? Wenn ich dich so erlebe, wie du erzählst und singst, und wenn ich dabei auf meine Resonanz achte, dann spüre ich deutlich mein Herz. Es ist einerseits aufgeregt und klopft stark, zieht sich aber gleichzeitig zurück, engt sich ein, fühlt sich fast ein bisschen eingesperrt, zieht in jedem Fall irgendwie die Bremse. Wenn ich hinhöre, was mein Herz möchte, dann möchte es, glaube ich, aus der Einsperrung heraus, möchte sich in die Weite hinein ausdrücken.“ Während der letzten Worte hat die Teilnehmerin schon leise zu weinen angefangen und sagt jetzt: „Was du sagst, berührt mich sehr. Es trifft genau das, was ich in meinem Herzen spüre.“
„Magst du mal probieren, aus dem Herzen heraus zu singen? Vielleicht das Lied von eben, das von Friedrich Hollaender?“
„Ja“, und sie zögert ein wenig, um dann mit leiser Stimme zu sagen: