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Nicht einmal auf das Leckerli, das ich ihr vor die Schnauze hielt, reagierte sie. Es war sehr seltsam. In der Hundeschule hatte ich gelernt, auf diese Weise ihren Stresslevel zu testen. Nahm sie das Futter an, war das Niveau überschaubar bis niedrig. Alles okay. Nahm sie es nicht an, war sie angespannt und ich damit gefordert, die Stressquelle auszuschalten. Bloß wie, wenn da keine erkennbare war?
Ich hockte mich zu ihr und schaute in die gleiche Richtung. Vielleicht konnte ich auf diese Weise erkennen, was meine Hündin dermaßen irritierte? Doch ich sah weiterhin … nichts. Leya blieb noch einige Minuten stehen, ehe sie, genauso plötzlich wie sie erstarrt war, wieder auftaute. Als wäre nichts gewesen, erkundete sie heiter weiter die Umgebung.
Manchmal bedauere ich es, dass ich Leyas Gedanken nicht lesen kann. Denn es ist evident, dass Hunde Dinge wahrnehmen können, die unseren menschlichen Sinneswahrnehmungen verschlossen bleiben. Das Hirnareal von Hunden für Gerüche etwa ist vierzig Mal so groß wie das von uns Menschen. Das ermöglicht es ihnen auch, Dinge zu erschnuppern, die längst vergangen sind. Es ist ein geniales Organ, das eine Zeitreise ins Gestern ermöglicht. Leya ist also auf ihre Art selbst eine Historikerin und womöglich noch mehr. Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Hunde und Katzen und alle möglichen anderen Tiere auch prophetische Gaben haben. Ihre vielfach belegte Fähigkeit, Erdbeben vorauszusagen, versucht derzeit die renommierte Max Planck-Gesellschaft über ihr Institut für Verhaltensbiologie in einem aufwändigen Projekt zu ergründen.
Erst jüngst hatte mir Leyas Verhalten bei der Geburtstagsfeier einer Freundin zu denken gegeben. Leya, die es als Musterbeispiel eines Rudeltiers liebt, Menschen um sich zu haben, hatte sich an jenem Abend standhaft geweigert, zu uns ins Wohnzimmer zu kommen. Schließlich hatte ich herausgefunden, dass das Haus, in dem meine Freundin lebte, früher eine Metzgerei gewesen war. Und dass der Platz, an dem wir saßen, genau jener Ort war, an dem die Tiere geschlachtet worden waren.
Viele Hundebesitzer können bestätigen, dass Tiere augenblicklich spüren, ob ihnen etwas oder jemand behagt oder nicht. Gehe ich mit Leya spazieren und begegnen wir anderen Menschen, steuert sie entweder freundlich auf sie zu oder kommt auf meine andere Seite, um ihnen auszuweichen.
Ich habe auch beobachtet, dass Leya ihre Notdurft am liebsten an Orten verrichtet, die für uns Menschen schlechte Energien haben. Als ich sie einmal zu einer kurzen Zugfahrt mitnahm, ging ich vor der Abfahrt noch eine Runde mit ihr, damit sie ihr Geschäft verrichten konnte. Draußen in der Natur weigerte sie sich, erst als wir schon am Bahnsteig waren, entleerte sie sich endlich, und zwar direkt unter einer Hochspannungsleitung. Viele Ratgeber über Hundeerziehung bestätigen dieses Verhalten von Hunden. In Gärten zum Beispiel stellen sie sich gern über Wasseradern.
Möglicherweise verfügen Hunde auch über einen Magnetsinn, der sie ebenfalls Dinge wahrnehmen lässt, die uns verschlossen bleiben. Forscher der Universität in Duisburg-Essen gehen gemeinsam mit Kollegen der Technischen Agraruniversität in Prag der Frage nach, ob Hunde sich für ihr Geschäft am liebsten an der magnetischen Nord-Süd-Achse ausrichten, wenn man sie lässt. Doch leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die angeblich mit Tieren kommunizieren können. Ich kann Leya nur beobachten und ihr Verhalten zum Teil des Stimmungsbildes machen, das ich von einer Besichtigung mitnehme.
Einige Tage nach dieser Hausführung machte ich mich an die Arbeit. Ich forschte im Gemeinde-Archiv nach und erfuhr dabei mehr über die Vorbesitzer des Hauses.
Als Archivarin und Historikerin habe ich Zugänge zu Unterlagen, an die nur befugte Menschen kommen. Doch auch allgemein zugängliche Gemeinde-Archive sind für mich wichtige Informationsquellen. Noch wichtiger sind nur Kirchen-Archive, die oft bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, sofern nicht Brände oder andere Katastrophen sie zerstört haben.
Ich sitze dann stundenlang in Zimmern, umgeben von wertvollen, alten Dokumenten und Büchern. Handys sind dort verboten, aber meist handelt es sich ohnehin um Kellerräume ohne Empfang. Die Stimmung ist immer ein bisschen wie in Dan Browns Historien-Thriller The Da Vinci Code. Es ist abenteuerlich und aufregend, denn ich weiß nie, auf welches Geheimnis ich als nächstes stoße.
Da sind auch immer eine gewisse Anspannung und Neugier mit dabei, sodass ich mich oft kaum von diesen Unterlagen losreißen kann und viele Tage hintereinander in diesen Zimmern verbringe. Immer auf der Suche nach Details und Namen, die mich auf neue Spuren bringen. Auch online, manchmal einfach über Google, lässt sich bei der Recherche der Geschichte eines Hauses oder eines Ortes mittlerweileviel herausfinden. Wobei es bei Google besonders wichtig ist, auf die Quellen zu achten, weil gerade zu diesem Thema neben einigem Nützlichen auch viel Unfug durch das Internet geistert.
In diesem konkreten Fall reichten die Belege im Gemeinde-Archiv nur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, denn die Umgebung, in der das Gebäude stand, war in beiden Weltkriegen ein Kampfgebiet gewesen. Viele Aufzeichnungen, offenbar vor allem die älteren, waren dabei vernichtet worden oder verloren gegangen.
Meine Recherche konzentrierte sich aber, wie immer in solchen Fällen, nicht nur auf Archive. Einen Großteil meiner Arbeit macht das Reden aus. Ich rede mit Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung eines Hauses oder eines Ortes, mit dem ich mich befasse, leben. Vor allem in ländlichen Regionen tragen sie oft überliefertes Wissen in sich, das nur teilweise oder gar nicht dokumentiert ist. Manche von ihnen sind redseliger als andere. Die muss ich finden. Dafür brauche ich vor allem Geduld, Zeit und Feingefühl.
Am Ende meiner Recherchen hatte ich aber genug Informationen gesammelt, um zu erkennen, dass sich in dem Haus eine Geschichte immer wieder wiederholt hatte. Menschen, die dort gelebt hatten, hatten mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Sie alle mussten das Haus nach dessen Erwerb bald wieder verkaufen, weil sie in finanzielle Not geraten waren und es sich nicht mehr leisten konnten.
Eine Familie, die in dem Haus gelebt hatte, hatte mit ihrem Unternehmen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges Metalldosen für Lebensmittel hergestellt. Man würde aufgrund des damaligen Bedarfes an solchen Produkten davon ausgehen, dass sie die vielen Aufträge kaum bewältigen könnten. Immerhin waren Konservendosen überlebensnotwendig für die Soldaten im Krieg. Aber genau das Gegenteil war der Fall: Die Firma ging bankrott.
Später zog ein Ehepaar mit ihrem Sohn in das Haus. Sie hatten sich davor über Jahre hinweg ein erfolgreiches Geschäft in der Textilbranche aufgebaut, das sie, als sie alt genug waren, um in Rente zu gehen, ihrem Sohn überschrieben. Anfangs lief das Geschäft so erfolgreich wie bisher weiter. Dann aber wendete sich das Blatt. Der Sohn, der nie heiratete und sein Leben mit seinen Eltern in dem Haus verbrachte, wurde drogen- und spielsüchtig und führte das Unternehmen binnen weniger Jahre in die Pleite.
Auch Krankheiten hatten dort in der Vergangenheit eine bemerkenswerte Rolle gespielt. In zwei Familien, die das Haus bewohnt hatten, starben Menschen früh durch dasselbe Krankheitsbild. Sie hatten Probleme mit der Lunge gehabt.
Dann stieß ich noch auf ein bemerkenswertes Ereignis, das sich keinem Muster zuordnen ließ, das ich aber dennoch zur Kenntnis nahm. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte eine Handvoll deutscher Soldaten in der großen Scheune ihr Lager aufgeschlagen. Sie blieben einige Wochen dort. Als sie abzogen, blieb einer von ihnen tot im Schuppen zurück. Niemand erfuhr jemals, ob er einem Verbrechen zum Opfer gefallen oder auf natürliche Weise verstorben war.
»Weißt du auch, was Leya in dem Zimmer angestarrt haben könnte?«, fragte der Notar, als ich ihm alles geschildert hatte, was sich in der Vergangenheit in dem Haus zugetragen hatte.
Ich lächelte. »Das ist dir aufgefallen?«
»Es