transformers. Группа авторов
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15 Vorabdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2020.
NOCH nicht gesichtet
NOTATION_SFBODIES 00‘54~
tina lorenz
endlich.
Das Jahr, in dem sich das Theater endgültig dem Digitalen annähern würde, war 2014. Da war ich mir sicher. Gerade hatte nachtkritik einen Artikel von mir zum Streaming aus dem Theater veröffentlicht1, im Jahr zuvor war ich erstmals in Dortmund gewesen und hatte mir in einem Festival-Setting angesehen, wie das Schauspiel, zusammen mit dem örtlichen Chaos Computer Club, ein für mich radikal neues Theater machte – eines, in dem die Erzählweisen des Internets mit den Erzählweisen des Theaters verschmolzen. Die Nerds hatten während des Cyberleiber-Festivals2 aus dem oberen Foyer des Schauspielhauses einen temporären Hackspace gemacht, und da dachte ich schon, dass das vielleicht noch was würde, das mit den Nerds und den Theaterleuten. Aber es ist ja immer leichter, sich das Außen einzuladen, dorthin, wo man selber noch die Kontrolle und die Deutungshoheit über sich und sein Wirken hat. Selber rausgehen und sich in andere Kulturkreise bewegen braucht dann immer noch ein bisschen mehr Mut. Weshalb das Jahr, in dem sich das Theater endgültig an das Digitale rangetraut hat, erst ein Jahr später war. Da saß ich nämlich zwischen den Jahren in Hamburg. Genauer gesagt im Hamburger Congress Centrum CCH, in dem zwischen 2012 und 2016 der Chaos Communications Congress, das jährliche Großtreffen des Chaos Computer Clubs, stattfand. Noch genauer gesagt hing ich im Kidspace rum, der riesigen Zwischenetage, gefüllt mit Legosteinen, Retrokonsolen, Anfänger-Lötkram, Chaos, Krach und unfassbar vielen Nerdkindern, die das von klein auf so kennen. Auf einmal jedenfalls stand da dieser Typ. Dreiteiler. Kariert. Der etwas verloren in der Gegend rumguckte und dann mit einem „Ha, dich kenn ich!“ auf mich zukam, offenbar glücklich über ein bekanntes Gesicht, wenn auch aus einem anderen Kontext. Kay Voges war auf den Congress gefahren, und damit hatte sich das Theater endgültig aus seiner analogen Komfortzone getraut.
Die 2010er-Jahre waren für den Themenbereich „Theater und Digitalität“ sehr vielversprechend gestartet (okay, Herbert Fritsch war schon vorher losgerannt und hatte seit 2001 die Texte zu seinem hamlet_X in einem Wiki gesammelt): 2012 schrieb die Intendant*innengruppe des Deutschen Bühnenvereins im Rahmen der re:publica einen Wettbewerb aus, der neue Formen der Inszenierung für digitale Kanäle prämierte.3 Die Bayerische Staatsoper fing an, ausgewählte Produktionen zu streamen (und das Theater Ulm auch, dieser heftige Underdog der digitalen Pionierarbeit!). Auch die erste Vereinbarung des Bühnenvereins zum Thema Streaming (eingebettet in einen Vorstoß zur Reformierung des Urheberrechts), in dem Vorschläge zur Vergütung und zur Vertragsgestaltung für die an einem Stream beteiligten Ensembles gemacht wurden, stammt aus der Jahreshauptversammlung 2012.4 Das Thalia Theater veranstaltete 2012 ein erstes Barcamp zum Thema Internet und Social Media (ohne Internet)5. 2013 wurde die Konferenz „Theater und Netz“ von der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik ins Leben gerufen (mit Internet)6. 2014 stand mit Kay Voges zum ersten Mal ein Intendant eines deutschsprachigen Stadttheaters auf einem CCC-Congress. Und dann passierte …
Nichts. Die zweite Hälfte der 2010er-Jahre war dann irgendwie überwiegend geprägt von Ratlosigkeit gegenüber diesem seltsamen Phänomen namens „Internet“. Dortmund hatte mit seinem Theater eine Nische besetzt und zu seinem Markenzeichen gemacht, ansonsten schien man den digitalen Wandel zumeist aussitzen zu wollen. Natürlich: Ein paar mehr Stadt- und Staatstheater legten sich Facebook-Accounts zu (und fragen sich bis heute, was sie damit eigentlich machen sollen und warum sie die Betreuung eines Instruments, das sich eigentlich so gar nicht für Marketingzwecke eignet, noch mal in die Marketingabteilung einsortiert haben). Einige Theater experimentierten mit digitalen Formaten, aber weit weniger als zuvor. Vielleicht hatte Effi Briest 2.0 sie abgeschreckt, eine sehr verunglückte Social-Media-Inszenierung aus dem Jahr 2012,7 in der die Werbeagentur Jung von Matt maßgeblich mit Regie geführt hatte, und mit der man nicht interagieren durfte, um die Figurendialoge nicht zu stören. Die Ehrenrettung für das Format „Social-Media-Inszenierung“ sollte tatsächlich noch acht Jahre auf sich warten lassen.8 Während der mobile Datenstandard LTE um 2010 herum in Deutschland Verbreitung fand und wir damit selbst unterwegs zunehmend mit dem Internet verbunden waren, wurden am Theater eher Mammutprojekte im Schauspiel wie ein achtstündiger Faust (Nicolas Stemann, 2011)9 oder Dionysos Stadt (zehn Stunden, 2018)10 gefeiert, in der implizit auch die Abkehr von der permanenten Erreichbarkeit mitzelebriert wurde (in der Oper kannte man das Prinzip ja schon etwas länger …) Dem gegenüber stand ein launiger, aber begreiflicherweise auch kurzlebiger Trend des Live-Twitterns aus dem Theater.11
Noch im Jahr 2018 titelte die Neue Musikzeitung anlässlich der Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins in Lübeck, dieser würde einen „Kulturwandel“ anstreben.12 Zentrale Teile der Tagesordnung: der wertebasierte Verhaltenskodex für die Eindämmung von Machtmissbrauch und Übergriffen am Theater und die Digitalisierung. Während der wertebasierte Verhaltenskodex noch auf der Jahreshauptversammlung selbst als Minimalkonsens mit Vorschlagscharakter verabschiedet wurde (und auch das nicht ohne Widerstand), blieb es im Themenkomplex Digitalisierung zumindest vonseiten des Bühnenvereins aus beim interessierten Exkurs, dem keine strukturellen Taten folgten.
Dass das Staatstheater Augsburg Ende 2019 VR-Brillen für ein hybrides Opernprojekt anschaffte, war angesichts dieser Entwicklung zwar kein Zufall, sondern logische Fortführung, wäre aber vermutlich ein Einzelfall-Leuchtturmprojekt in einer ansonsten immer noch am analogen Zeitalter klammernden Theaterlandschaft geblieben. Das gemächliche Tempo, in dem sich die Theater der Digitalität gerne angenähert hätten, haben die globalen Ereignisse der Jahre 2020 und 2021 und die damit einhergehende Schließung der Bühnen für die längste Zeit seit 1944 gehörig beschleunigt. Die Realisierung einiger Theater, dass der eigene Facebook-Account, den man vor ein paar Jahren noch in der Marketingabteilung geparkt hatte, nun quasi über Nacht die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch mit einem Publikum in Kontakt zu treten, muss hart gewesen sein. Dass dann an ganz vielen Häusern überhaupt etwas passiert ist – irgendetwas! – sowohl im ersten wie auch im zweiten Lockdown ein halbes Jahr später, zeugt davon, dass Theater in kürzester Zeit Berge bewegen und komplette Wertesysteme auf den Kopf stellen kann. Wenn es will. Oder wenn es muss.
Mittlerweile hat sich wohl jedes Theater im deutschsprachigen Raum mit digitalen Formaten auseinandergesetzt und eruiert, wo es eigentlich steht im digitalen Kulturwandel. Dabei sind an vielen Stellen auch die Desiderate des am Theater lange Zeit ignorierten Innovationsstaus zutage getreten: Man hat gemerkt, dass Abteilungen schlecht ausgestattet, Personal nicht hinreichend geschult und Infrastruktur nicht angemessen entwickelt worden ist. Auf der anderen Seite hat sich aber auch die eigene Haltung den digitalen Ausspielkanälen gegenüber gewandelt. Der vorherrschende Diskurs ist nicht mehr einer, der den physischen Raum gegen den digitalen ausspielt und – wie früher oft gehört – eine pauschalisierende Wertung vornimmt, sondern einer, der sich fragt, ob man eigentlich an der Aura des Produkts erkennt, ob das jetzt ein Live-Stream ist oder nur die temporäre öffentliche Ausspielung einer Aufzeichnung. Im Gegensatz zu früher tragen wir die Begriffe Ko-Präsenz, Liveness, Immersion und Durchlässigkeit nicht mehr als Monstranz und Beweis unserer unverrückbaren analogen Existenz vor uns her, sondern versuchen, sie auf die neuen Gegebenheiten, die neuen Bühnen anzuwenden. Was beispielsweise heißt es für einen als live empfunden werden sollender Theaterabend, wenn die vierte Wand im Stream nicht mehr durchlässig ist, und mit welchen Mitteln können wir diese Durchlässigkeit wieder herstellen? Was bedeutet es für die autopoietische Feedbackschleife, wenn