Klassenführung. Willy Obrist
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Ein Teil unserer Lehrtätigkeit besteht darin, exemplarisch und fair Auseinandersetzungen um Grenzen und Haltungen zu führen.
Jugendliche sehen sich am Arbeitsplatz und in der Freizeit oft mit fragwürdigen Formen der Auseinandersetzung konfrontiert: Wegschauen, Ignorieren und Nichthandeln auf der einen Seite, unkontrollierte Macht- und Gewaltausübung auf der anderen Seite sind keine praktikablen Lebenswegweiser. Die berufliche Ausbildung soll Gelegenheit bieten, sich auch im Gebiet der Konfliktfähigkeit und der Streitkultur weiterzuentwickeln und erwachsenengerechte Formen zu erproben.
Jugendliche wachsen zum Teil in einer Umwelt auf, die den Eindruck erweckt, alles sei möglich und alles sei relativ (im Sinne von anything goes). Es ist aber für ihre Entwicklung wichtig, dass sie auch Grenzerfahrungen machen, feststellen, dass zwar über alles debattiert werden kann, gewisse Werte zum Schutz des Zusammenlebens und der Schwächeren aber nicht verhandelbar sind.
Physisch, psychisch und emotional präsent sein
Lehrpersonen müssen über ein 360-Grad-Beobachtungsvermögen verfügen; sie beobachten Handlungen in ihrem Blickfeld, registrieren aber auch, was sich an dessen Rande abspielt oder sogar in ihrem eigenen Rücken – aber nicht im Sinne einer allgegenwärtigen Strafinstanz, sondern von umfassender Präsenz.
Präsenz ist ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal erfolgreicher Lehrpersonen. Wir meinen damit:
• Physische Präsenz
Die Lehrperson ist auch bei Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit präsent. Nicht als Aufsichtsorgan, sondern als Begleiter der Arbeit, der bei Bedarf um Unterstützung und Hilfe gebeten werden kann.
• Psychische Präsenz
Die Lehrperson zeigt ihre Begeisterung für ihren Lehrauftrag in ihrem Ausdruck (Haltung, Mimik und Gestik) und ihrer Lebendigkeit. Diese Begeisterung aufrechtzuerhalten, ist eine der großen Herausforderungen des Lehrberufes. Lernende reagieren, sobald sie den Eindruck bekommen, der Lehrberuf sei für die Lehrperson nur noch Broterwerb und Pflichterfüllung.
• Emotionale Präsenz
Die Lehrperson verfügt über einen emotionalen Radarschirm, d. h., sie nimmt einerseits die emotionale Gestimmtheit der Einzelnen, der Gruppen und der Klasse wahr und reagiert angemessen darauf.
Die Angemessenheit ihrer Reaktion stützt sich andererseits auf den lebendigen Kontakt zur eigenen Stimmung. Diese beiden Voraussetzungen immer wieder in Balance zu halten, ist eine weitere große Herausforderung. Lernende finden Lehrpersonen, die ausrasten, uncool.
Verliert die Lehrperson an Präsenz, reagieren viele Klassen mit Unruhe. Unruhe ist ein Signal, dass nicht mehr alles im Gleichgewicht ist.
Sinnvoll begründete Leistungsanforderungen stellen und sie angemessen kommentieren
In dieser Hinsicht hat die Lehrperson zunächst eine Bringschuld zu erfüllen, die in folgenden Vorleistungen besteht:
• Die Lernvoraussetzungen sind geklärt. → Kapitel Überforderung – Unterforderung
• Die Leistungsanforderungen nach den gesetzlichen Grundlagen sind an die Lernvoraussetzungen der Klasse adaptiert.
• Der Unterricht ist gut vorbereitet und strukturiert, flüssig und abwechslungsreich gestaltet. → Kapitel Struktur
Wir sind überzeugt, dass Lernende lernen wollen, wenn ihnen eine reelle Chance gegeben wird, die Dinge zu verstehen und die eigenen Kompetenzen zu entwickeln. Ein solches Lernen ist unter anderem an folgende Bedingungen geknüpft:
• Die Lerninhalte sind in der Erfahrungswelt der Jugendlichen verankert.
Zu dieser Beziehung zwischen Objekt (Lerngegenstand) und Person müssen beide Seiten, Lehrperson wie Lernende, beitragen. Die Lehrperson überlegt sich bei der Vorbereitung mögliche Verbindungen, überprüft im Unterricht, ob ihre Vermutungen zutreffen. Die Lernenden können in der Einstiegsphase zu einem Thema darlegen, welche Beziehung sie zum Unterrichtsstoff aufbauen können, und während der Arbeit immer wieder die Bedeutung des Lehrstoffs für ihre persönlichen Verhältnisse überprüfen.
• Die Lernenden haben angemessene Wahlmöglichkeiten, wie sie sich den Lernstoff erarbeiten wollen.
Lernende reagieren positiv und motiviert, wenn sie sich dem Lernziel auf verschiedenen und ihrem Lernstil angemessenen Wegen nähern können. Dies setzt voraus, dass Lehrpersonen über ein entsprechendes Methodenrepertoire erweiterter Lehr- und Lernformen wie Werkstatt-, Projektarbeit u.a.m. verfügen.
• Leistungsanforderungen sind in einem angemessenen Maße individualisiert.
Wie andernorts ausführlicher dargestellt (→ Kapitel Überforderung – Unterforderung), ist die optimale Anpassung der Leistungsanforderungen an individuelle Gegebenheiten ein wesentlicher Faktor, um die Motivation aufrechtzuerhalten. Von der ganzen Klasse die gleiche Leistung zu erwarten ist unrealistisch. Erfolgreicher Unterricht und ein gutes Unterrichtsklima bedingen ein bestimmtes Maß an Individualisierung.
• Lernende bekommen auf Lern- und Arbeitsleistungen persönliche und differenzierte Rückmeldungen.
Lehrpersonen haben die Pflicht, Arbeits- und Lernleistungen mit Noten zu bewerten. → Kapitel Fair prüfen und bewerten
Lernenden mündlich oder schriftlich eine individuell differenzierte, kriterienorientierte Rückmeldung auf Lern- und Arbeitsleistungen zu geben ist anspruchsvoll. Ziel solcher Rückmeldungen ist es, mit den Lernenden in einen Dialog über ihr Lernen zu treten. Unverzichtbar sind individuelle, differenzierte Rückmeldungen etwa auf das Führen eines Lernjournals oder -tagebuchs, bei Portfoliobeiträgen, Quartalsarbeiten, Wahl- oder Facharbeiten. → Kapitel Kommunikation
• Hoher Anteil an Eigenarbeit und echter Lernzeit für die Jugendlichen.
In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Übergang von einer »Belehrungskultur« zu einer »Lernkultur« vollzogen werden muss. Lernen findet dann statt, wenn sich Jugendliche mit Problemen und Aufgaben auseinandersetzen im Sinne von: »Belehre mich nicht – lass mich lernen.« Für Lehrpersonen ist der Rollenwechsel vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter in den letzten Jahren augenfällig geworden. → Kapitel Struktur
Der Wunsch nach Selbstwirksamkeit
Ein gutes Unterrichtsklima stellt sich dann ein, wenn sich die Lernenden als selbstwirksam erleben. Dieses Gefühl wird zur Überzeugung, wenn Lernende immer wieder erleben, dass sich