Future Angst. Mario Herger
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Doch der Feind des Guten ist nicht das Bessere, sondern zu viel des Guten. Die Probleme, die uns zu viele Autos gebracht haben, scheinen uns fast schon wieder als vorherbestimmt und damit unabänderlich. Zumindest dachten wir das bis vor Kurzem. Und dann kommt eine Krise, die uns einen neuen Denkansatz erlaubt. Plötzlich ergreifen Städte während einer Pandemie die Chance eines zum Erliegen gekommenen Autoverkehrs und gestalten Straßen zu Fußgängerzonen und Fahrradspuren um. Die Leute entdecken die Fahrbahnmitte und das Fahrrad wieder für sich. Wie es ein Fahrradhändler mir gegenüber ausgedrückt hat, weil es weltweit zu einer Fahrradknappheit gekommen war: „Fahrräder sind das neue Klopapier.“
Dieser und andere sich seit einiger Zeit abzeichnenden Trends zum Automobil zeigen, dass nicht die Technik allein bestimmt, wie wir leben, sondern ein komplexes Wirken aus sozialen, politischen, kulturellen und natürlich technologischen Faktoren unsere Lebensqualität schafft. Die Technikdeterministen und -warner setzen auf unsere Hilflosigkeit angesichts dieser Technologien, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Genauso wie die Profiteure von Technologien die Alternativen verhindern. Technologie wird immer weniger als etwas zum Menschsein Beitragendes und stattdessen als etwas uns davon Entfernendes betrachtet.
In der BBC-Dokumentation „The Pleasure of Finding Things Out“ („Das Vergnügen, Dinge herauszufinden“) aus dem Jahr 1981 schildert Physiknobelpreisträger Richard Feynman, wie die Wissenschaften zum Wissen beitragen und nicht davon ablenken oder sogar etwas wegnehmen:
Ich habe einen Freund, der Künstler ist und manchmal eine Ansicht vertritt, mit der ich nicht so ganz einverstanden bin. Er hält eine Blume hoch und sagt: „Schau, wie schön sie ist.“ Und ich stimme zu. Dann sagt er: „Ich als Künstler kann sehen, wie schön das ist, aber du als Wissenschaftler nimmst das alles auseinander und es wird eine langweilige Sache.“ Und ich denke, dass er irgendwie verrückt ist. Zunächst einmal ist die Schönheit, die er sieht, auch für andere Menschen zugänglich und für mich auch, glaube ich …
Ich kann die Schönheit einer Blume schätzen. Gleichzeitig sehe ich viel mehr von der Blume, als er sieht. Ich kann mir die Zellen darin vorstellen, die komplizierten Vorgänge im Inneren, die auch eine Schönheit haben. Ich meine, es ist nicht nur Schönheit in dieser Dimension, auf einem Zentimeter; es gibt auch Schönheit in kleineren Dimensionen, die innere Struktur, auch die Prozesse. Die Tatsache, dass sich die Farben in der Blume entwickelt haben, um Insekten zur Bestäubung anzulocken, ist interessant; das bedeutet, dass die Insekten die Farbe sehen können. Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es diesen ästhetischen Sinn auch bei den niederen Formen? Warum ist er ästhetisch? Alle Arten von interessanten Fragen, die das wissenschaftliche Wissen nur zu der Aufregung, dem Geheimnis und der Ehrfurcht vor einer Blume hinzufügt. Es fügt nur hinzu. Ich verstehe nicht, wie es subtrahieren kann.
Als Menschen scheinen wir zwischen diesen beiden Seiten eingekeilt. So wie eingesperrte Hunde durch Elektroschocks so lethargisch gemacht werden, dass sie selbst bei der Gelegenheit, diesem Schicksal zu enteilen, diese nicht ergreifen, genauso hält uns die „erlernte Hilflosigkeit“ davon ab, die Chancen der Technologien zu ergreifen und die Risiken zu vermeiden. Die Technikdeterministen und -warner wollen aller Technologie entsagen, die Technologieprofiteure uns diese alternativlos aufdrängen. Warum aber sollten wir wählen müssen und nicht mehr von den Chancen und dafür weniger von den Risiken haben? Das allerdings erfordert einen mündigen Technologienutzer. Und diese Erziehung beginnt bei uns selbst und bei unseren Kindern.
Sind wir zu dekadent geworden?
Meine Reaktion, wenn das deutsche LinkedIn erst mal
wieder jahrelang diskutiert über die Frage:
„Darf man jetzt eigentlich auch am Wochenende posten?“
Leute – Stock aus’m Rücken, machen!
Dina Brandt (Trotziger Millennial)6
Wir befinden uns im Zeitalter der Dekadenz, wie es Ross Douthat, der Autor von „The Decadent Society: How We Became the Victims of Our Own Success“ („Die dekadente Gesellschaft: Wie wir Opfer unseres eigenen Erfolges wurden“), schreibt. Dekadenz definiert er dabei als das Resultat einer Mischung aus wirtschaftlicher Stagnation, institutionellem Verfall und kultureller und intellektueller Erschöpfung. Wiederholung wird zur Norm, Innovation zur Ausnahme – und sie befällt alle öffentlichen und privaten Einrichtungen gleichermaßen. Das geistige und intellektuelle Leben scheint sich dabei im Kreis zu drehen und liefert weniger, als zu erwarten wäre. Die Stagnation und der Verfall sind dabei – ganz wichtig – ein Ergebnis des eigenen signifikanten Erfolgs.
Ich sage dazu immer, dass Zürich, Hamburg, Wien, Köln oder München „zu schön für Innovation“ seien. In welchen Regionen finden wir die innovativsten Gesellschaften? In Gegenden, wo Verfall und Funktionieren in einer inspirierenden Balance stehen. Nicht dort, wo zu viel nicht funktioniert. Auch nicht dort, wo zu viel gut funktioniert. Wenig überraschend, dass das Silicon Valley, Tel Aviv, Berlin oder Shenzhen offensichtlich dieses Gemisch aus gut und schlecht, verfallen und aufgeräumt, Chaos und Ordnung, Licht und Schatten bieten. All diese Orte sind einzigartig in der Art, wie der inspirierende Mix zusammenkommt.
Besucher im Silicon Valley sind oft erstaunt über die Rückständigkeit der hiesigen Infrastruktur. Stromkabel, die auf Holzmasten gespannt sind, Straßen, bei denen die Aufgabe des Asphalts rein im Verbinden der Schlaglöcher zu liegen scheint, und selbst Schecks – jawohl, auf Papier – sind nach wie vor übliche Zahlungsmittel im Land der Hochfinanz. Uber oder Lyft konnten nur dort entstehen, wo es zwar öffentlichen Nahverkehr gab, der aber gleichzeitig genau die richtige Prise schlecht ist, um eine Chance für innovative Unternehmer zu bieten. In der Schweiz mit ihrem perfekten und pünktlichen Eisenbahnsystem käme niemand auf die Idee, Alternativen dazu zu entwickeln. Man fände auch keine Investoren.
Mein Leben in Kalifornien, wo ich seit 2001 meinen Wohnsitz habe, gestattet die Sicht auf unsere deutschsprachige europäische Gesellschaft von außen. In seinem Buch „Psychotherapy East and West“ schrieb der Philosoph Alan Watts, dass man die starren Gesellschaftsstrukturen seiner Region als gegeben hinnimmt, ohne sie zu hinterfragen. Um zu erkennen, wie verrückt gewisse Einschränkungen und Regeln sind, müsse man „rausgehen“. Mit zwei Jahrzehnten Erfahrung in Kalifornien, wo die Gesellschaft von Immigranten aus aller Herren Ländern geprägt wird und das geografisch genauso weit weg von Asien liegt wie von Europa, ist mein Blick auf meine Herkunftsgesellschaft und Kultur einer von außen und zugleich von innen. Und das erlaubt einen an manchen Stellen schärferen, an anderen einen oberflächlicheren Blick auf die Besonderheiten, aber immer einen, der den Vergleich erlaubt, die Schwächen und Stärken aller „Philosophien“ zu sehen. Meine Verbundenheit mit dem Kulturkreis meiner Herkunft ist nicht in Zweifel zu ziehen und deshalb will ich mit den folgenden Kapiteln dazu beitragen, den Menschen hier und dort eine Hilfestellung zu geben. Genauso, wie ein Vater oder eine Mutter manchmal ihre Kinder schelten müssen, weil sie deren Bestes wollen, wird es auch in diesem Buch an kritischen Aussagen und schmerzhaften Erkenntnissen nicht mangeln. Wäre mir die Zukunft meiner Familie, meiner Freunde und Bekannten in Europa egal, würde ich die kritischen Stellen auslassen. Den Stress, mich der Kritik auf meine Kritik zu stellen, könnte ich mir ersparen. Doch die Zukunft Europas und meines Kulturkreises ist mir nicht egal und ich hoffe, meine Leserinnen und Leser sehen das genauso.
In „Future Angst“ sehen wir uns in den folgenden Hauptkapiteln zuerst mit „Present Angst“ den aktuellen Status quo an. Welche aktuellen Ängste prägen uns? Im dritten Kapitel „Past Angst“