Future Angst. Mario Herger

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Future Angst - Mario Herger

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das, was uns umgibt, seltsam und einzigartig zu finden; eine gewisse Bereitschaft, unsere Vertrautheit aufzubrechen und ansonsten die gleichen Dinge zu betrachten; eine Inbrunst, das, was geschieht und was vergeht, zu klassifizieren, eine Lässigkeit in Bezug auf die traditionellen Hierarchien des Wichtigen und Wesentlichen.

      Ohne die digitale Anti-Renaissance abzuschütteln und sich für das moderne Äquivalent der Spechtzunge zu interessieren, werden wir weder unsere Unternehmen noch Europa in die Zukunft bringen, geschweige denn diese Zukunft mitgestalten können. Wir müssen selbst experimentieren und ausprobieren und uns nicht nur Konferenzwissen aneignen. Wir müssen die Angst vor dem Unbekannten abschütteln und neugierig sein. Leonardo beschäftigte sich mit Dingen, die uns trivial erscheinen mögen, aber selbst im Trivialen sind Erkenntnisse verborgen, die weitreichende Bedeutung haben.

      Vor einiger Zeit besuchte ich eine lokale Messe in der kalifornischen Stadt Fresno. Hier, mitten in dieser von Agrarland umgebenen Kleinstadt, hält die aus Laos eingewanderte Hmong-Bevölkerung alljährlich ihre einwöchige Kulturfeier mit vielen Ausstellern ab. In einer Halle gab es den Stand eines örtlichen Fortbildungsinstituts, bei dem eine Lehrerin demonstrierte, wie man mit einem Lockenstab unterschiedliche Arten von Locken in das lange Haar des Models machen kann. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich das beobachtet. Eine leichte Drehung hier, ein längeres Pressen da – und die Locken waren entweder kurz und eng oder lang und voluminös. Werde ich das Wissen darüber je brauchen? Bei meinem Kurzhaarschnitt eher nicht. Aber wer weiß heute schon, wo diese Erkenntnis einmal praktisch oder als Metapher zum Einsatz kommen kann. Zumindest hier in diesem Buch konnte ich sie schon einmal als Beispiel anführen.

      Das Funktionsdilemma

      Die Bedeutung deines Lebens ist etwas, das du schaffst.

      Noam Chomsky

      Es ist ein regnerischer Novembertag, als ich mich auf den Weg zu einem Vortrag vor Studenten und Absolventen der Technische Universität München ins neu eingeweihte Werksviertel mache. In diesem Stadtentwicklungsgebiet, von dem aus die Pfanni-Knödelfabrik jahrzehntelang die Bundesrepublik mit Fertigknödeln belieferte, befinden sich heute Bürogebäude, schicke Container mit Weinbars sowie gleich neben einem Partydach Schafe und Hühner auf einer „Dachalm“. Dass die Tiere dort überhaupt sein dürfen, war nicht dem Münchner Veterinäramt zu verdanken, das sich nicht dazu äußern wollte, ob sich Hühner und Schafe überhaupt miteinander vertragen. Das Amt übertrug die Verantwortung den Betreibern, sie dort anzusiedeln. Bei jeder Party auf dem begrünten Dach der ehemaligen Fabrik kommen die Schafe neugierig an die Partyzone heran, staunen und lauschen.

      Genauso lauschten und staunten vermutlich die Studenten bei meinem Vortrag über die Technologietrends in der Automobilbranche. Fahrerlose Autos navigieren heutzutage sicher durch die Straßen der San Francisco Bay Area. Ein Physikabsolvent hob nach dem Vortrag die Hand und erklärte überzeugt:

      Ich habe ein Haus in den Bergen und im Winter ist das immer zugeschneit. Da muss ich zehn Kilometer über schneebedeckte Straße fahren, um dorthin zu gelangen. Das wird ein autonomes Auto nie können.

      Das war im Jahr 2019, genau 50 Jahre nach der ersten bemannten Mondlandung. Das war einige Tage, nachdem die Voyager-2-Sonde unser Sonnensystem verlassen und endgültig in den interstellaren Raum vorgedrungen war. Das war Jahre, nachdem Menschen in 10.000 Metern Tiefe mit U-Booten und Tauchrobotern im Meer die Welt erkundet haben, nachdem wir Raumsonden auf andere Planeten und Monde in unserem Sonnensystem gesandt haben und wir mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf unserem eigenen Planeten fliegen können.

      Dennoch ist ein Physiker der TU München felsenfest davon überzeugt, autonome Autos würden nie eine zehn Kilometer lange schneebedeckte Strecke zurücklegen können – von derselben TU, dessen Hyperloop-Team viermal in Folge den Wettbewerb zum schnellsten Hyperloop-Pod gewonnen hat und sogar eine eigene Teststrecke um München erhalten wird.

      Ich könnte diese Behauptung als einen statistischen Ausreißer ignorieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein Physiker macht noch keine TU. Doch ist dies kein Einzelfall, denn gerade aus dem deutschsprachigen Raum kommen zu selbstfahrenden Autos immer wieder solche Reaktionen. Kritischer sehe ich solche Aussagen, wenn sie von Ingenieuren stammen. Menschen, die ausgebildet wurden, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu finden, die dem Wohl der Menschheit dienen.

      Wer erinnert sich nicht an die Prüfungsfragen in der Schule und an der Universität, die üblicherweise die Form von „Finde den Wert von x“ aufweisen? Ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Aufgabe die Prüflinge aufforderte, alle Gründe zu finden, warum etwas niemals funktionieren könne.

      In den nächsten Kapiteln werden wir uns mit Beispielen zu Erfindungen und Innovationen aus der Vergangenheit befassen, die zeitgenössisch mit Skepsis oder sogar mit Warnungen vor dem moralischen Verfall der Gesellschaft aufgenommen worden waren. Oft zeichneten sich diese Erfindungen bereits ab. Dennoch fanden sich genügend „Expertenstimmen“, die das Streben nach der Lösung als vergebliche Liebesmüh und als etwas Widernatürliches bezeichneten. So druckte 1903 die New York Times unter der Schlagzeile „Flugmaschinen, die nicht fliegen“ („Flying Machines Which Do Not Fly“) zehn Wochen, bevor Wilbur und Orville Wright den ersten kontrollierten Flug mit einem Motorflugzeug erfolgreich absolvierten, eine Kolumne ab, die die bisherigen Fehlversuche als nichts Überraschendes darstellte.5

      Wenn es also zum Beispiel tausend Jahre dauert, bis ein Vogel, der mit rudimentären Flügeln begonnen hat, für einen einfachen Flug geeignet ist, oder zehntausend Jahre für einen Vogel, der ohne Flügel begonnen hat und sie erst ausbilden musste, dann könnte man davon ausgehen, dass der Flugapparat, der tatsächlich fliegen wird, durch die gemeinsamen und kontinuierlichen Bemühungen von Mathematikern und Mechanikern in einer Million bis zehn Millionen Jahren entwickelt werden könnte – vorausgesetzt natürlich, dass wir inzwischen so kleine Nachteile und Unannehmlichkeiten wie das bestehende Verhältnis zwischen Gewicht und Festigkeit bei anorganischen Materialien beseitigen können.

      Wie kommt es, dass gerade Technikexperten derart überzeugt davon sind, dass etwas nicht und niemals klappen wird? Und warum tendieren sie dazu, zuerst sämtliche Gründe aufzuzählen, warum etwas nicht funktionieren könnte? Ist unser Ausbildungssystem nicht eigentlich darauf ausgelegt, unsere Sinne darin zu schärfen und uns Werkzeuge an die Hand zu geben, Lösungen und Antworten zu finden? Wo also auf dem Weg vom Schüler, Studenten und Experten läuft da etwas schief?

      Während die einen vor allem erklären, warum etwas nie klappen wird, befürchten die anderen, dass es zu gut klappen kann. Erstere agieren in einem Umfeld absoluter Sicherheit, die Letzteren hingegen leben in einem von Unsicherheit und Angst geprägten Umfeld.

      Eine E-Mail, die ich zur Digitalisierung des Gesundheitswesens über eine Informationsplattform erhielt, drückte das aus. Der Autorin ging es vor allem um ethische Fragen und listete eine Reihe von Gefahren auf: digitale Gesundheits-Apps, die eine Abhängigkeit von Arbeitgebern schafften; die Anfälligkeit von Patientendaten, die gehackt werden könnten und das Arztgeheimnis verletzten; künstliche Körperteile, die uns zu Cyborgs machten; Organspenden, die zu einem lukrativen illegalen Organhandel führen würden.

      Dieser Angstfokus erinnert an den Film „Die Truman Show“, in der Jim Carrey den Versicherungsangestellten Truman Burbank spielt, der – ohne sich dessen bewusst zu sein – der Hauptdarsteller einer Realityshow ist, die sich um sein Leben dreht. Von seiner Geburt bis zu seinem Berufseinstieg lebt er in der unter einer Kuppel gelegenen künstlichen Seestadt Seahaven. Damit er nicht den Wunsch entwickelt, verreisen zu wollen, und so die Illusion verlässt, in der er sich unwissentlich befindet, ließen sich die Showproduzenten viele Tricks einfallen, um in ihm die Angst vor Reisen zu verstärken. So soll sein Vater (ebenfalls ein Schauspieler) angeblich bei einem Bootsunfall verstorben

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