Future Angst. Mario Herger
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Der Grund, warum Moralunternehmer immer Gehör finden, liegt an zwei Komplizen: den Journalisten, die nach sensationellen Schlagzeilen suchen, um ihre Verkaufszahlen zu steigern, und den Politikern, die mit Freude einen Missstand öffentlichkeitswirksam anpacken und damit ihre Tatkraft – natürlich – für das Wohl der Bevölkerung zeigen wollen.
1953 veröffentlicht der Philosoph Sir Isaiah Berlin sein Essay „Der Igel und der Fuchs“, in dem er große Autoren und Denker in zwei Kategorien einteilt. Auf der einen Seite die Igel, die eine große Idee propagieren, auf der anderen Seite diejenigen, die aus einer Reihe von Ideen und Prinzipien schöpfen und postulieren, dass die Welt nicht auf eine Idee oder ein Prinzip reduziert werden kann. Zu den Igeln zählte er beispielsweise Platon, Dostojewski oder Nietzsche, zu den Füchsen Aristoteles, Shakespeare oder Goethe.
Der Politwissenschaftler Philip Tetlock griff diese Einteilung für Vorhersagen im Bereich Zukunftsforschung auf.11 Experten und Analysten, die vor allem eine Idee oder ein vereinheitlichendes Prinzip, das oft auf ideologischem Denken basiert, wiederholt vorbrachten, lagen signifikant oft mit ihren Vorhersagen falsch. Diese nannte er die Igel. Diejenigen Analysten und Experten, die eine differenziertere Betrachtungsweise bevorzugten, lagen öfter richtig. Das waren die Füchse. Sie holen sich Information aus verschiedenen Quellen und suchen auch aktiv nach widersprüchlichen Informationen, um ihr Denken und ihre Schlussfolgerungen zu hinterfragen.
Da Vorhersagen nie zu 100 Prozent eintreten, fanden selbst Igel, die immer falschlagen, Gründe, warum sie trotzdem recht hatten. Oder sie verwarfen die Hinweise auf die falschen Vorhersagen mit einem Schulterzucken. Nicht nur das. Sie fanden sich auch ermutigt, ihre Ideen und Prinzipien auf andere Fachbereiche auszudehnen. Je mehr sie das machten, desto tiefer versanken sie in ihrer intellektuellen Fallgrube und waren immer weniger bereit, neue Informationen, die ihrer Idee widersprachen, aufzunehmen. Sie befanden sich in einer Filterblase, in der sie nur mehr bestätigende Information zuließen oder so interpretierten.
Moderne heimische Igel und Moralunternehmer, die durch unsere Talkshows tingeln und in ihren Büchern simple Meinungen und nur selten Lösungsvorschläge – und auch diese oft von recht simpler oder alternativ radikaler Natur – medienwirksam vortragen, sind unter anderem Richard David Precht oder Anders Indset. Sie fallen mehr durch die Fülle ihrer Locken und zitierbaren Bonmots auf als durch ihr Technologieverständnis oder ein wirkliches Verständnis des gesellschaftlichen Wandels. Sie blenden uns mit dem Einstreuen von diesem Philosophen hier oder jenem ungenannten Vorstandsvorsitzenden da, mit dem sie auf einem Empfang geplaudert haben, definieren aber niemals ihre Begriffe, erklären nicht die Technologie, schlüsseln ihre Argumente nicht logisch auf, zeichnen aber ein Bedrohungsszenario nach dem anderen. Als Konsequenz fordern sie ein radikales Umdenken, radikale Maßnahmen, echauffieren sich, wenn dies nicht passiert, und fühlen sich bestätigt, wenn sich die Welt nicht gemäß ihren Vorstellungen ändert. Und das tut sie eigentlich nie, weil sie – wie schon Wertham – sofort nach noch radikalerem Vorgehen verlangen und bereits beim nächsten zivilisationsbedrohenden Thema ihrer Empörung eloquent Ausdruck verleihen.
Moralunternehmer folgen dabei dem FUD-Prinzip („Fear, Uncertainty and Doubt“, „Furcht, Ungewissheit und Zweifel“), indem sie Angstgefühle auslösen.12 Dabei geht es ihnen immer um die Selbstdarstellung. Jemand, der all diese Gefahren und Konsequenzen erkennen kann, hat das System dank seiner intellektuellen Fähigkeiten durchschaut. Jeder andere, der statt von den Gefahren von den Möglichkeiten und Chancen des Fortschritts spricht, kann nur naiv sein und fällt auf die Eigeninteressen von Ingenieuren, Technikern und Unternehmen herein, die davon profitieren wollen.
Die Psychologin und Harvard-Professorin Teresa Amabile hat diese Verhaltensweise in Experimenten untersucht. Sie legte Studenten zwei Buchrezensionen vor. Eine war eher positiv formuliert, die andere kritisch. Anschließend sollten die Studenten die Intelligenz der Rezensenten einschätzen. Die Studenten bewerteten die Intelligenz des Verfassers der kritischen Rezension höher. Was die Studenten aber nicht wussten: Beide Buchkritiken waren von Amabile selbst verfasst worden.13 Wer war nun intelligenter? Teresa oder Amabile?
Was ist, wenn ein ganzes Land oder Kontinent zum Moralunternehmer wird? Deutschland und Europa sind auf dem besten Weg dahin. Deutschland mit seinen Warnungen vor Datenmissbrauch und Europa mit seiner scheinbar einzigen Art, mit Fortschritt umzugehen, indem man alles beinahe zu Tode reguliert, rufen international vor allem Augenrollen hervor.
Wie ging es mit Fredric Wertham und seinen Studien weiter? Vor einigen Jahren stellte sich in einer überraschenden Wendung der Dinge heraus, dass die Schlussfolgerungen in Werthams Studien unter anderem auf vorsätzlich gefälschten Daten basierten.14 Und das ist übrigens eine Lehre aus dem Umgang mit Moralunternehmern: Sie schrecken in ihrem blinden Eifer nicht davor zurück, Informationen zu ihrem Zwecke zu fälschen, bewusst auszulassen oder gleich zu erfinden.
Erwähnungsumkehr
In der gesamten Menschheitsgeschichte hat es nie genug von den guten Dingen gegeben. Nicht genug Essen, nicht genug Bildung, nicht genug Freizeit.
Byron Reese15
Jetzt haben wir genug von allem, nur nicht gut verteilt.
Ab dem Jahr 1880 erschienen im Baedeker, dem gedruckten Reiseführer der vordigitalen Zeit, Einträge, die Reisende auf eine Innovation hinwiesen und zugleich den Luxus der erwähnten Hotels beschreiben sollten. In der Liste dieser Annehmlichkeiten eines Hotels tauchten vermehrt Fahrstühle auf – nicht nur als Fußnote, sondern oft an erster Stelle noch vor dem zeitgleich eingeführten elektrischen Licht oder dem Bad im Zimmer. Waren Lifte zuerst nur in den besten Hotels einer Region zu finden, so verfügten bald immer mehr Hotels über Aufzüge als Standardausstattung. In einem Reiseführer von Norditalien mit Ravenna, Florenz und Livorno aus dem Jahr 1911 wurden Aufzüge nicht mehr explizit erwähnt – mit einer Ausnahme: Bei Billighotels wurde beispielsweise mit dem Satz „bescheidene Ausstattung, ohne Aufzug und Zentralheizung“ auf das Fehlen von Aufzügen hingewiesen. Die Erwartungen der Reisenden hatten sich in wenigen Jahren bereits so geändert, dass Aufzüge in Hotels eine vorausgesetzte Ausstattung waren, während hingegen das Fehlen vom Reiseführerverlag als erwähnenswert betrachtet wurde.16
Was der Aufzug um 1900 war, ist die Internetverbindung 100 Jahre später. Hotelgäste erwarten auf den Zimmern eine WLAN-Geschwindigkeit, die das Streamen von Filmen ohne störende Unterbrechungen und in perfekter Auflösung erlaubt. Ein Sprecher der österreichischen Wirtschaftskammer meinte dazu:17
Ein Bett ohne Frühstück kann man verkaufen, ein Bett ohne WLAN kann man nicht mehr verkaufen.
Die Erwartungen gehen über Hotelzimmer hinaus. Gute Internet- und Datenverbindungen werden heutzutage im ganzen Land erwartet. Im internationalen Vergleich zeigt sich durch die Art der Diskussion, was als Standard erwartet wird. Was Deutschland angeht, wird nicht auf das Vorhandensein schneller Datenverbindungen hingewiesen, sondern das Fehlen vielerorts erstaunt Besucher und wird als explizit erwähnenswert betrachtet. Wären die Länder Hotels im Baedeker, dann wäre Deutschland ein Billighotel.
Von einer erwähnenswerten Neuheit zu einem nicht weiter erwähnenswerten, nun