Die magische Schwelle. Kai Pannen

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Die magische Schwelle - Kai Pannen

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beiden mit der Gewissheit an, am längeren Hebel zu sitzen.

      Widerwillig legten Flo und Jakob ihre Controller nieder und warfen einen wehmütigen, letzten Blick auf den Bildschirm. Sie schnappten sich eine Schale mit Kirschen aus dem Kühlschrank und gingen auf den Balkon.

      Jakob wohnte ganz oben in einem der fünf Hochhäuser am anderen Ende der »Schleife«. Flo war gerne dort, denn man hatte eine wunderbare Aussicht. Von hier oben verstand man sofort, warum der Stadtteil so genannt wurde, denn die Gleise gingen, wie bei einer Modelleisenbahn, einmal in einer riesigen Schleife um ihn herum. Tagsüber war es still auf den Straßen und man sah nur wenige Menschen. Aber jetzt, am frühen Abend, kamen viele Bewohner von der Arbeit nach Hause und es herrschte reger Autoverkehr. Drum herum ratterten die Züge über die Gleise. Unterhalb des Bahndamms reihten sich die schnuckeligen Wohnhäuser. Viele Anwohner waren um diese Uhrzeit mit Gartenarbeit beschäftigt. Andere gingen mit ihren Hunden Gassi. Ein paar Jogger machten Dehnübungen. Es waren Szenen wie auf der Eisenbahnanlage seines Vaters.

      »Was machen wir jetzt?«, fragte Flo. Aus lauter Langeweile spuckten sie Kirschkerne vom Balkon.

      »Keine Ahnung. Wir können ein Hörbuch hören«, schlug Jakob vor.

      »Keine Lust«, sagte Flo und steckte sich eine Kirsche in den Mund. »Ich versuch mal, den Briefkasten zu treffen.«

      »Wir könnten zu dir gehen und ein bisschen in eurem Chevrolet rumsitzen«, schlug Jakob vor, nachdem auch das Kirschkernspucken an Reiz verloren hatte.

      Im Wagen spielen, mit diesem unheimlichen Kofferraum? Flo hatte sich doch vorgenommen, nicht wieder zu tief in seine Fantasiewelten zu versinken.

      »Nö, keine Lust. Ich muss jetzt sowieso nach Hause, Klavier üben, sonst motzt mein Vater wieder.«

      Klavier spielen war eine Möglichkeit, etwas Realistisches zu machen. Verfolgungsjagden in einem alten Auto zu spielen, gehörte eindeutig nicht dazu.

      Ein Zug ratterte über die Hochbrücke in Richtung Hamburg, als Flo kurz darauf zu Hause ankam. Auf Klavierspielen hatte er eigentlich gar keine Lust und so setzte er sich erst mal auf die Vorgartenmauer und beobachtete die Ameisen. Eine krabbelte gerade seinen Arm entlang. Es kitzelte, also pustete er sie weg. Was für ein Orkan das für so ein Tierchen sein musste. Doch gleich kamen Dutzende Ameisen hinterhergekrabbelt. Vermutlich saß er mitten auf einer Ameisenstraße und blockierte sie wie ein riesiger Felsbrocken, den es nun zu überwinden galt. Er ging nach hinten in den Garten. Anscheinend war niemand zu Hause. Seine Mutter arbeitete um diese Uhrzeit noch in ihrer Praxis, sein Vater im Laden und seine Schwester hing bestimmt an der Kletterwand. Der Chevrolet stand lauernd unter dem Carport und schien ihn mit seinen Doppelscheinwerfern höhnisch anzugrinsen. Noch nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass dieser Wagen eine Art Monster sein könnte, das geduldig auf seine Beute lauerte, bis es plötzlich ein ahnungsloses Opfer verschlang und in einer anderen Welt wieder ausschied.

      Seit Ewigkeiten hatte sich sein Vater vorgenommen, den Wagen wieder fahrtüchtig zu kriegen. Doch irgendwie schien er es nicht auf die Reihe zu bekommen, die unzähligen Ersatzteile einzubauen, die in der Garage und im Keller lagerten.

      Flo klopfte gegen das schwere Blech der Karosserie. »Es ist ein Auto, nichts weiter«, sagte er immer wieder, wie um sich selbst zu beruhigen. Es war völlig unmöglich, durch den Kofferraum in eine andere Dimension zu gelangen. Was war nur mit ihm los, dass er sich so wirre Sachen ausdachte? Und dass die ihm dann auch noch wie Wirklichkeit vorkamen. So wie Robbi, der ständig mit jemand Unsichtbarem redete. Würde er auch mal so enden? Gefangen in seiner eigenen Welt? Wenn doch alles vom Kofferraum aus so echt ausgesehen hatte, war das dann nicht ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er verrückt war?

      Pubertät, würde seine Mutter wahrscheinlich sagen, da können schon mal merkwürdige Dinge vorkommen. Flo betrachtete den Wagen und rang mit dem Gedanken, es noch einmal zu versuchen. Er brauchte die Gewissheit, dass er nur geträumt hatte, sonst würde er ewig an seinem Verstand zweifeln. Vorsichtig öffnete er den Kofferraum. Er sah ganz normal aus, riesengroß und bis auf ein paar Werkzeuge und Schrauben vollkommen leer. Verstohlen blickte er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete. Dann öffnete er die hintere Tür und stieg in den Wagen. Die Luft war stickig und roch wie immer etwas moderig, nach einer Mischung aus Leder, Motoröl und Kunststoff. Vorsichtig legte er die Rückenlehne um und spähte in den dunklen Kofferraum. Er konnte nichts Verdächtiges feststellen. Der gleiche Kofferraum wie von außen, mit ein paar Werkzeugen und einer Schachtel Schrauben. Sein Puls schlug wie eine Trommel, als er hineinkrabbelte. Wie beim ersten Mal zog er die Rückenlehne wieder in die aufrechte Position und saß einen Augenblick im Dunkeln. Dann hob er langsam die Haube an, nur einen Spaltbreit. Womöglich wartete der Bauer ja noch auf die Gelegenheit, ihn aus dem Auto zu zerren. Doch er konnte keinen Bauern entdecken. Auch keine Kühe. Er hob den Deckel weiter an, wagte es kaum, genauer hinzuschauen. Er blinzelte und erblickte die Einfahrt, ein Stück vom Vorgarten, die Haustür unter dem Vordach. Sein Zuhause!

      Heidi, die nicht klettern war, sondern die ganze Zeit in ihrem Zimmer verbracht hatte, schaute aus dem Fenster und beobachtete ihren Bruder, wie er etwas verwirrt im Kofferraum hockte und sich umguckte. Sie verdrehte die Augen und murmelte: »Der hat schon ’ne ganz schöne Macke, mein kleiner Bruder.«

      Gleichzeitig kam Flo zu der befreienden Erkenntnis, dass er so eine Macke eben doch nicht hatte.

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       VERRÜCKT! EINDEUTIG VERRÜCKT!

      »Ich bin also doch nicht verrückt?« Flo war erleichtert und zugleich auch ein kleines bisschen enttäuscht, dass es nur ein stinknormaler Kofferraum war. Wenigstens erschien ihm der alte Chevrolet jetzt nicht mehr ganz so unheimlich und über die nächsten Tage hinweg verlor der Wagen mehr und mehr seinen Schrecken. Trotzdem hielt er sich fürs Erste von ihm fern. Er hatte sich schließlich vorgenommen, sich mit realen Dingen zu beschäftigen und nicht mehr mit Kinderkram. Er übte Klavier.

      »Wow, das könnte ja irgendwann sogar mal eine Melodie werden, wenn du so weitermachst«, spottete Heidi.

      »Stör mich nicht, ich muss üben.«

      »Stimmt, du musst sogar noch sehr viel üben. Aber ehrlich, so langsam nervts.«

      »Dann hör halt weg.«

      »Willst du nicht lieber wieder was lesen? Oder mit der Eisenbahn spielen oder im Chevrolet sitzen? Das ist irgendwie ruhiger.«

      »Tut mir leid. Aus dem Alter bin ich raus.«

      »Du bist zwölf!«

      »Zwölfeinhalb«, verbesserte Flo.

      »Ist doch kein Unterschied. Alle Jungs, die ich kenne, haben in dem Alter noch mit ihren Autos gespielt.«

      Flo knallte den Klavierdeckel zu und ging genervt in sein Zimmer. Er schnappte sich Gullivers Reisen und blätterte lustlos darin herum. Radfahren fiel aus, weil es regnete.

      Vielleicht hatte Heidi recht und er sollte noch mal eine Ausnahme machen, bevor er endgültig erwachsen wurde. Immerhin hatte er Klavier geübt, mindestens 20 Minuten. Er musste nicht besonders lange mit sich ringen, bis er sich entschloss, ein letztes Mal in die Kleine Freiheit zu gehen.

      »Nur kurz, ausnahmsweise«, rechtfertigte sich der Spieltrieb.

      Sicherheitshalber

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