Die magische Schwelle. Kai Pannen
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Читать онлайн книгу Die magische Schwelle - Kai Pannen страница 9
Flo schaltete das Licht auf der Anlage aus und ging nach unten.
Eine Weile warfen sie Pfeile auf Flos neue Dartscheibe in seinem Zimmer. Danach spielten sie im Keller ein paar Runden Kicker. Aber Flo war unschlagbar, sodass Jakob nach kurzer Zeit die Lust verlor. Und weil ihnen nichts anderes mehr einfiel, stiegen sie in den alten Chevrolet. Natürlich nur, um ihre Ruhe zu haben. Ganz nebenbei lieferten sie sich Verfolgungsjagden mit unsichtbaren Bösewichten. Worüber sie natürlich niemandem etwas erzählen würden, da waren sie sich einig.
Als Jakob nach Hause musste, blieb Flo eine Weile allein im Auto sitzen. Da war schließlich noch diese gefährliche Gangsterbande, die ihn verfolgte. Immer dichter kamen sie heran und würden bestimmt gleich schießen. Man musste den Gegner überraschen. Einen Trick anwenden, mit dem seine Verfolger sicher nicht rechnen würden. Flo schaltete den Tempomaten ein und richtete das Lenkrad aus. Während der Wagen also den schnurgeraden Wüsten-Highway entlangbrauste, kletterte er nach hinten, legte die Rückenlehne um und kroch in den Kofferraum. Von dort aus wollte er das Paket Schrauben auf der Straße auskippen. Die Reifen des gegnerischen Autos würden platzen, ihr Wagen ins Schleudern geraten und im Wüstenstaub stecken bleiben. Es kam auf das Überraschungsmoment an. Er musste sie möglichst nah herankommen lassen. Dann stieß Flo beherzt die Kofferraumklappe auf und …
Schon wieder! Natürlich erwartete er nicht, wirklich seine Verfolger zu sehen. Aber mit dem, was er nun erblickte, hatte er noch weniger gerechnet. Er war schon wieder in dieser fremden Welt, wenn auch an einem anderen Ort. Sein Blick fiel direkt auf einen Bahnhof. Passanten kamen aus dem Bahnhofsportal und liefen über den Vorplatz. Ein Leierkastenmann orgelte die immer gleiche Musik herunter. Eine Frau, bepackt mit drei prallvollen Einkaufstüten, schob genervt einen Kinderwagen, in dem ein Kind laut schreiend nach Keksen verlangte, während ihr Hund an der Leine in eine andere Richtung zerrte. Und der freundliche Herr dort war doch eindeutig Herr Müller! Genau wie die Figur, die Flo vor Kurzem repariert hatte, hob er seinen Hut zum Gruß. Aus der Nähe betrachtet wirkte sein Arm allerdings etwas verdreht … Von irgendwo tönten Kirmesgeräusche und Feuerwehrsirenen. Ein paar Bauarbeiter standen rund um eine Grube und gaben einem Kollegen kluge Ratschläge, wie er am besten zu schaufeln hatte. All das waren haargenau die Szenen, wie sie auf der Eisenbahnanlage stattfanden und wie Flo sie unzählige Male schon von oben herab betrachtet hatte.
Halb erschrocken, halb neugierig beobachtete Flo das bunte Treiben. Sollte er es wagen auszusteigen? Konnte man all das, was er da sah, auch anfassen? Den Boden betreten? Oder würde er ins Nichts fallen, weil alles nur Einbildung war?
Vorsichtig ertastete er mit der Fußspitze den Untergrund. Er war fest. Er stampfte mit dem gesamten Fuß kräftig auf. Der Boden hielt stand. Also wagte er es, mit zitternden Knien aus dem Kofferraum zu steigen.
›Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer in den Wahnsinn‹, ging es ihm durch den Kopf. Zögernd tat Flo einen ersten Schritt, dann noch einen und noch einen. Es fühlte sich vollkommen normal an. Dennoch traute er sich nicht zu weit von seinem Kofferraum weg. Rings um ihn herum gingen die Leute ihrer Wege. Die Sonne schien, die Temperatur war angenehm mild und die Menschen hatten gute Laune. Wieso wunderte sich niemand, dass er mitten auf dem großen Platz neben seinem Chevi stand und gerade aus dessen Kofferraum gestiegen war?
»Ihr seid alle Verräter!« tönte eine raue Stimme.
Flo erschrak. Der verwirrte Typ, der immer mit seinem Einkaufswagen auf dem Bahnhofsportal umherzog, kam direkt auf ihn zugeschlurft. Beim Spiel mit der Eisenbahnanlage hatte er das Plastikfigürchen zum Spaß Robbi getauft. Nur dass der jetzt kein Figürchen aus Plastik mehr war, sondern sich sehr real wie der echte Robbi verhielt.
»Geh zur Seite und lass mich in Ruhe«, schimpfte er mit leerem Blick und starrte direkt an Flo vorbei. »Du brauchst dich gar nicht so zu verstellen. Und ich soll hier durch den ganzen Dreck laufen. Kannste vergessen.«
Flo war immer noch nicht klar, ob dieser Robbi ihn meinte.
»Du Außerirdischer willst uns alle entführen!«
Flo machte automatisch ein paar Schritte zurück und purzelte rücklings in den Kofferraum.
»Plastik, überall Plastik. Du bist nicht echt.«
Flo hatte genug gesehen und gehört. Auch wenn er nicht gemeint war, fühlte er sich ertappt. Er zog die Heckklappe fest zu und tauchte ins Dunkel des Kofferraums. Wenn er jemandem erzählen würde, was er gerade gesehen hatte, käme er mit Sicherheit in die Psychiatrie.
Am Abend setzte er sich neben seine Mutter aufs Sofa und bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Tonfall. »Mama, kommen eigentlich manchmal auch Verrückte zu dir in die Praxis?«
»Verrückte? Na klar, jede Menge. Beschweren sich, dass sie zu lange warten mussten. Andere beschimpfen mich, wenn ich sie nicht krankschreibe, oder …«
»Nee, ich meine so richtig Verrückte. Die im Kopf nicht ganz richtig sind.«
»Ach, du meinst Menschen mit psychischen Krankheiten? Eigentlich nicht. Es sei denn, sie haben körperliche Beschwerden. Manche sind vielleicht etwas altersverwirrt. Aber ich bin ja Ärztin für Allgemeinmedizin, da habe ich mit psychischen Krankheiten weniger zu tun. Wieso interessiert dich das?«
»Ich seh öfter diesen Typen, der immer nur mit jemand Unsichtbarem spricht.«
»Ich weiß, wen du meinst. Möglicherweise hat er Halluzinationen. Er sieht oder hört Dinge, die ihm sein Gehirn vorgaukelt. Für ihn erscheint das wahrscheinlich ganz real.«
»Wie kriegt man denn so etwas?«
»Da gibt es viele Ursachen, jemand hat etwas Schlimmes erlebt oder ein Geschwür beeinträchtigt seine Gehirnfunktionen. Oft sind auch Drogen die Ursache für solche Psychosen.« Tanja hielt kurz inne. Dann fuhr sie fort: »Vor Robbi brauchst du aber keine Angst zu haben. Ich weiß zwar nicht, was heute genau mit ihm los ist, aber früher war der ganz normal.«
»Du kennst ihn?«
»Ja, klar. Ich kann mich sogar noch erinnern, wie Robbi plötzlich in der Stadt aufgetaucht ist. Damals war er ein echt cooler Typ, fanden wir. Auch weil er immer mit einer dicken amerikanischen Limousine herumfuhr. Ein bisschen angeberisch war das natürlich schon. Mit der Zeit wurde sein Verhalten jedenfalls immer sonderbarer, er begann über Sachen zu reden, die keiner verstand. Schließlich bot er seinen Chevrolet zum Verkauf an – und rate mal, wo der jetzt steht …«
»Unser Chevi hat mal Robbi gehört?«, brach es ungläubig aus Flo heraus.
Tanja lachte und fuhr fort: »Du kennst ja deinen Vater, der konnte nicht widerstehen, Robbi wollte auch nicht viel Geld dafür. Und seitdem steht die Karre da unten und ist nie wieder gefahren … Wir haben damals gewitzelt, dass das Ding ohne Robbi einfach nicht mehr will. Den Carport hat dein Papa dann erst später gebaut, damit der Wagen