Völkerrecht. Bernhard Kempen
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III. Anwendungsbereich
Ein umfassendes Gewaltverbot ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. aufgenommen worden. Die Vorschrift lautet: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
1. Normadressaten
Das Verbot aus Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. gilt vertragsrechtlich ausdrücklich nur für die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Aus dem völkergewohnheitsrechtlichen Verbot sind hingegen alle Staaten verpflichtet, d. h. auch solche, die nicht UN-Mitglieder sind. Auf eine → Anerkennung des Staates kommt es nicht an. Es macht zudem keinen Unterschied, wenn mehrere Staaten ihre Gewaltaktion gemeinsam im Rahmen einer → Internationalen Organisation (z. B. der → NATO) durchführen; neben die Verantwortlichkeit der einzelnen Staaten tritt dann allerdings zusätzlich die Verantwortlichkeit dieser Organisation. Das völkergewohnheitsrechtliche Gewaltverbot bindet zudem ein → stabilisiertes De facto-Regime; auch dieses kann sowohl gegen das Gewaltverbot verstoßen als auch Opfer eines Verstoßes werden. Nichts anderes gilt grundsätzlich für den failed state (→ Staatsgewalt), da dessen → Völkerrechtssubjektivität weiterhin besteht. Allerdings ist bei einer vom Territorium des failed state ausgehenden militärischen Aktion genau zu differenzieren, welche Gruppierung die Maßnahme zu verantworten hat – die noch residual vorhandenen staatlichen Einheiten oder organisierte nicht-staatliche Einheiten (Warlords). Nur für erstere ist die Zurechnung ihres Handelns zum (gescheiterten) Staat eindeutig. Bei Aufständischen, deren Rebellion letztlich erfolgreich durch Übernahme der Staatsgewalt oder Gründung eines eigenen Staates abgeschlossen wird, kommt es nach den Grundsätzen der → völkerrechtlichen Verantwortlichkeit zu einer „nachträglichen“ Zurechnung zu dem jeweiligen Staat (vgl. Art. 10 der GV-Res. 56/83 zur Staatenverantwortlichkeit).
Private (Personen und Organisationen) sind nicht Verpflichtete des universellen Gewaltverbotes. Das hat vor allem historische Gründe, da das (vorherige) Kriegsverbot an eine militärische Auseinandersetzung zwischen Staaten (Krieg) anknüpfte; die Handlungen Privater sind nur dann völkerrechtlich relevant, wenn sie einem Staat zugerechnet werden können. Die Zurechnung erfolgt grundsätzlich nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit (→ Verantwortlichkeit, völkerrechtliche). Im Nicaragua-Fall (Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), ICJ Reports 1986, 14) hat der → IGH eine derartige Zurechnung unter der Voraussetzung vorgenommen, dass der Staat die „effektive Kontrolle“ über die Guerillakämpfer hatte. Angesichts der Terroranschläge vom 11.9.2001, die in ihrer Qualität durchaus einem militärischen staatlichen Angriff gleichkamen, ist zudem eine Zurechnung auf den Staat erfolgt, der den Terroristen einen „sicheren Hafen“ (safe haven) zur Vorbereitung ihrer Aktionen geboten oder ihnen nach den Gewaltmaßnahmen eine Rückzugsmöglichkeit und Unterschlupf gewährt hat. In diesem Fall sind die terroristischen Handlungen dem „Hafen-Staat“ zudem als → „bewaffneter Angriff“ zuzurechnen, so dass das → Recht zur Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Ch.) des angegriffenen Staates ausgelöst wird. Die zunehmende Gewaltausübung im internationalen Bereich durch nichtstaatliche oder parastaatliche Organisationen, insbesondere durch Terrorgruppen, wirft vor dem Hintergrund der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten bei der Handlungszurechnung allerdings die Frage auf, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen auch Private als Verpflichtungsadressaten des universellen Gewaltverbotes in Betracht kommen sollten.
2. Anwendung/Androhung von Gewalt
Dem Begriff der Gewalt (force) kommt bei der Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs des Gewaltverbots eine zentrale Bedeutung zu. Die → Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 1970 in der → Friendly Relations Declaration u. a. den Versuch unternommen, diesem Begriff klarere Konturen zu verleihen. Die Deklaration ist zwar rechtlich unverbindlich, spiegelt in Teilbereichen jedoch die Rechtsüberzeugung der Staaten wider. Neben der Friendly Relations Declaration kann auch die 1974 ebenfalls von der Generalversammlung verabschiedete Aggressionsdefinition (Definition of Aggression) als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Anwendungsbereiches des Gewaltverbots herangezogen werde, obwohl diese Definition eigentlich den Begriff der Angriffshandlung (act of aggression) im Sinne von Art. 39 UN-Ch. näher bestimmen soll.
a) Beschränkung auf Waffengewalt
Nach den Erfahrungen aus der Zwischenkriegszeit hat man bei der Formulierung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. bewusst auf die Verwendung des Rechtsbegriffs „Krieg“ verzichtet, um einer Differenzierung zwischen „Krieg“ und „bewaffneter Repressalie“ von vornherein den Boden zu entziehen; das Verbot sollte jegliche Form der militärischen Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen verbieten. Erfasst werden von dem Verbot nicht nur sämtliche Formen von Waffengewalt in einem technischen Sinn, sondern auch bakteriologische, biologische und chemische Waffen.
b) Direkte/indirekte Gewalt
Der IGH hat im Nicaragua-Fall (ICJ Reports 1986, 14) neben der direkten Gewaltanwendung, die von in den jeweiligen Staat eingegliederten Einheiten vorgenommen wird, den Anwendungsbereich des Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. ausdrücklich auch auf Formen der indirekten Gewaltanwendung erstreckt, wie etwa die Entsendung