Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger
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Pflanzliche Ernährung: einfach gesund?
Wie wir sehen werden, sind reduktionistische Ansichten vollkommen unzulänglich, wenn es zum Beispiel um die Frage geht, welche Nahrungsmittel denn nun eindeutig gesund und daher für den menschlichen Verzehr bestimmt seien. Tatsächlich ist die einzige Nahrungsquelle, die für den Menschen praktisch a priori durch den Evolutionsprozess optimiert wurde, die menschliche Muttermilch. Alle anderen Bestandteile unserer täglichen Nahrung wurden nie einem derartig rigorosen »Optimierungsprozess« unterzogen.
Nehmen wir einmal die Pflanzen, welche einen ganz wesentlichen Anteil an unserer Ernährung haben und immer schon hatten. Sie sind gänzlich eigenständige Lebewesen, mit ihren ureigenen »Interessen«. Sie haben sich im Laufe ihrer mehrere Hundert Millionen Jahre andauernden Evolution unzählige Mechanismen angeeignet, die sie vor Krankheitserregern, Parasiten und Fressfeinden schützen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, die sich durch den tierischen Verzehr ihrer Früchte verbreiten und daher auch einen Vorteil haben, gefressen zu werden, schützen sich die meisten Pflanzen davor, tierischen oder mikrobiellen Fressfeinden zum Opfer zu fallen, indem sie chemische Verbindungen synthetisieren und einlagern. Dies können wir im besten Fall entweder durch ihren bitteren oder unangenehmen Geschmack oder im schlimmsten Fall durch gesundheitliche Probleme nach deren Verzehr am eigenen Leib feststellen. Dazwischen ist das Spektrum für die menschliche Gesundheit relativ groß. So enthalten etwa ungekochte grüne Bohnen, wie Busch- oder Feuerbohnen, eine giftige Eiweißverbindung (Lektin) – das sogenannte Phasin. Bereits ab einer relativ geringen Verzehrmenge können Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall die Folge sein. Bei Kleinkindern reichen aufgrund ihres geringeren Körpergewichtes schon fünf bis sechs rohe Bohnen, um unangenehme Symptome hervorzurufen. Kommt es zum Verzehr größerer Mengen, sind tödliche Vergiftungen nicht auszuschließen.
Und dennoch können wir Hülsenfrüchte wie Bohnen, insbesondere wegen ihres die Darmgesundheit fördernden Ballaststoffgehaltes und als Quelle für hochwertiges pflanzliches Eiweiß, als gesunde Lebensmittel bezeichnen – vorausgesetzt, die Bohnen werden mindestens zehn Minuten gekocht, wodurch das Protein Phasin weitgehend zerstört wird. Andere Hülsenfrüchte wie Linsen oder Kichererbsen enthalten ebenfalls giftige Lektine, die erst durch Einweichen und gründliches Kochen unschädlich gemacht werden. In Hülsenfrüchten sind zudem sogenannte Proteaseinhibitoren enthalten, die unsere körpereigenen Enzyme daran hindern, Proteine zu spalten, wodurch deren Abbau blockiert wird.
Yamswurzeln und Bataten, die Lebensgrundlage vieler Menschen auf der Erde, können ebenfalls nicht roh gegessen werden, da sie beträchtliche Mengen an Blausäure enthalten, die erst durch mehrfaches Abgießen des Kochwassers verschwindet. Spinat enthält (ebenso wie Rhabarber) Oxalsäure, die ebenfalls zu der Gruppe der Antinutritiva zählt und, im Übermaß genossen, zur Bildung von Nierensteinen führen kann. Antinutritiva (auch Antinährstoffe) tragen, wie der Name schon sagt, nichts zur Nährstoffversorgung des Körpers bei, sondern verhindern sogar deren Aufnahme im Darm. Nach der richtigen Zubereitung durch Kochen oder Dämpfen gehen aber 50–80 Prozent der Oxalsäure verloren und Spinat (vor allem junger) wird zu einem gut verträglichen und gesunden Lebensmittel.
Nachtschattengewächse wie Kartoffeln, Auberginen (Melanzani) und Tomaten enthalten das Alkaloid Solanin, welches insbesondere bei grünen Früchten nach Rohverzehr Durchfall, Krämpfe, Erbrechen oder auch Sehstörungen auslösen kann. Weisen Zucchini oder Kürbisse einen stark bitteren Geschmack auf, ist das ein Hinweis darauf, dass sie Spuren des hitzebeständigen Giftes Cucurbitacin enthalten.
Mais, der in Mittelamerika seit mehr als 5000 Jahren als Kulturpflanze ein vollwertiges Hauptnahrungsmittel darstellt, enthält viele wertvolle Bestandteile. Allerdings kann durch einen beständig hohen Konsum von Mais ein Mangel an Nicotinsäure (auch Niacin oder Vitamin B3) entstehen. Das damit verbundene schwere Krankheitsbild heißt Pellagra und ist durch die Symptome Durchfall, Hauterkrankungen und Demenz gekennzeichnet. Die Indianer Mittelamerikas erkannten bereits, dass sie den Mais einem speziellen Prozess, der sich Nixtamalisation nennt, unterziehen müssen, um sich vor diesen unerwünschten Folgen zu schützen. Was sie nicht wussten, ist, dass das im Mais enthaltene Niacytin, das durch Phytinsäure gebundenes und dadurch vom menschlichen Körper nicht verwertbares Niacin darstellt, für diese Folgen verantwortlich zeichnet. Wie auch immer sie es anstellten, sie fanden irgendwann heraus, dass sie die ungemahlenen Maiskörner stundenlang in Wasser mit gelöschtem Kalk oder Holzasche kochen und über Nacht einweichen mussten, um ihr Grundnahrungsmittel langfristig bekömmlich zu machen. Heute wissen wir, dass durch den Prozess der Nixtamalisation das enthaltene Niacytin in verwertbares Vitamin B3 umgewandelt wird. Es handelt sich damit um eine der wichtigsten Erfindungen der mesoamerikanischen Zivilisation, ohne die ihre Entwicklung zur Hochkultur vermutlich nicht möglich gewesen wäre.
Sie sehen also, dass Kategorien wie »gut« oder »schlecht« im Zusammenhang mit unserer Ernährung nicht hilfreich sind, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig ist. Bei den oben genannten Pflanzen bzw. deren Früchten oder Wurzelknollen handelt es sich nämlich tatsächlich um durchaus gesunde Lebensmittel – die richtige Zubereitungsform vorausgesetzt.
Es sind unsere kulturellen Errungenschaften wie das Kochen, die viele Lebensmittel erst genießbar und dadurch zu dem machen, wofür wir sie schätzen. Die Liste an pflanzlichen Lebensmitteln, die erst nach einem entsprechenden Behandlungsprozess ihre unangenehmen Eigenschaften verlieren, ist lang.
Im Endeffekt ist keine einzige Pflanze primär für den menschlichen Verzehr bestimmt, auch wenn wir viele ohne besondere Nebenwirkungen verspeisen können. Freilich hat der Mensch über einen längeren Zeitraum, mindestens jedoch seit Anbeginn der Landwirtschaft vor etwa 10 000 Jahren, auch durch künstliche Zuchtwahl Pflanzensorten herausgezüchtet, die, im Unterschied zu den ursprünglichen Wildformen, erheblich weniger dieser Abwehrstoffe enthalten und daher einerseits »besser« schmecken und zum Teil verträglicher sind, andererseits manche für unsere Gesundheit sehr zuträglichen Bitterstoffe und sekundären Pflanzeninhaltsstoffe verloren haben. So wurde das erwähnte Gift Cucurbitacin durch entsprechende Züchtung aus Zucchini und Kürbis herausgezüchtet. Durch besondere Kreuzungen kann es aber immer wieder vorkommen, dass es sich spontan bildet. Der bittere Geschmack verrät es und sollte uns vom Verzehr abhalten.
Auf der anderen Seite sind Bitterstoffe in Pflanzen (beispielsweise im Chicorée oder in Grapefruits) aber auch ein Hinweis auf deren Gehalt an Antioxidantien. Auch für die Produktion von Galle und eine funktionierende Verdauung scheinen pflanzliche Bitterstoffe eine wichtige Rolle zu spielen. In diesem Zusammenhang ist es also durchaus problematisch, dass über viele Jahrzehnte die Bitterstoffe aus unserer Nahrung zu einem großen Teil herausgezüchtet wurden, um sie geschmacklich »attraktiver« zu machen.
Selbst unsere Geschmacks- und Geruchswahrnehmung hat sich im Laufe der Evolution entwickelt, gut bewährt und verfeinert, da wir mithilfe unserer Sinne potenziell unverträgliche Pflanzen besser erkennen und daher meiden können. Wir sehen also, dass selbst eine pflanzenbasierte Ernährung nicht primär oder automatisch als gesund einzustufen ist, nur weil die Pflanzen »der Natur entstammen«.
Es wäre daher tatsächlich eine (naturalistische) Fehlannahme, dass alles »Natürliche« von vornherein gut für den Menschen sei. Wir haben es zu dem gemacht, was es ist, und im Zuge der Menschwerdung durch unsere Beobachtungsgabe und unserem im Tierreich einzigartigen Erfindungsreichtum geschafft, die vielfältigen Ressourcen der Natur für uns immer besser zu nützen. Auch wenn das so von vornherein von den Pflanzen gewissermaßen »nicht vorgesehen war«. Auf den ersten Blick einigermaßen erstaunlich ist daher der Umstand, dass viele dieser sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, obwohl eigentlich gar nicht für uns bestimmt, zahlreiche gesundheitsförderliche Aspekte aufweisen, auf die ich später zurückkommen werde.
Dem Konzept und Verständnis von weder gut noch schlecht werden wir im Laufe dieses Buches