Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger

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Das unsichtbare Netz des Lebens - Martin Grassberger

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bezieht sich nicht auf den unmittelbaren Auslöser einer Krankheit, sondern vielmehr auf die alles entscheidende Frage, warum wir überhaupt für die eine oder andere Krankheit anfällig sind bzw. geworden sind. Einige aufschlussreiche Antworten finden wir, wie so oft, wenn wir einen umfassenden Blick in unsere Vergangenheit werfen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit der aktuellsten Wissenschaft und unserer gegenwärtigen Lebensweise abgleichen.

      Eine relativ neue Wissenschaftsdisziplin, die sich mit dieser langen (evolutionären) Vergangenheit in Verbindung mit den ungelösten medizinischen Fragen der Gegenwart beschäftigt, ist die sogenannte Evolutionäre Medizin (engl. Evolutionary Medicine).3

      Ich werde später auf einige der durch diese evolutionäre Betrachtungsweise gewonnenen Einsichten genauer eingehen. Wenngleich diese Erkenntnisse in vielen Fällen nicht automatisch zu einer simplen Lösung im Sinne einer raschen und effektiven Behandlung von Krankheiten führen, so beinhalten sie doch viele Lösungsansätze, was die Verhinderung von Krankheiten und das bessere Verständnis ihrer Entstehung betrifft. So viel sei jetzt schon verraten: Die Ernährung und unsere Umwelt (bzw. wie wir diese gestalten) spielen hierbei eine ganz entscheidende Rolle.

      Apropos Umwelt. Betrachten wir die evolutionäre Vergangenheit von Organismen, egal ob Mensch, Pflanze oder Mikrobe, so ist klar, dass wir dabei auch immer die komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Lebensformen selbst und deren Interaktion mit der Umwelt im weitesten Sinne mitberücksichtigen müssen.

      Die wissenschaftliche Teildisziplin der Biologie, die sich mit den Beziehungen von Lebewesen (Organismen) untereinander und zu ihrer Umwelt beschäftigt und diese erforscht, nennt sich Ökologie. Integriert man die Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie in ökologische Erklärungsmodelle, so erhält man das Fachgebiet der Evolutionsökologie. Tatsächlich werden heute in der Biologie zahlreiche ökologische Fragestellungen zu einem beträchtlichen Teil unter dem Aspekt der zugrunde liegenden Evolutionsprozesse untersucht.

      Betrachten wir die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, befinden wir uns wiederum im biologischen Teilgebiet der Humanökologie. Hier wird es besonders spannend und aufschlussreich, denn, wie mittlerweile weithin bekannt ist, haben wir Menschen während der letzten 200 Jahre und ganz besonders während der letzten Jahrzehnte unsere Umwelt (und unsere Beziehung zu ihr) gravierenden Änderungen unterworfen. Diese umfassen tiefgreifende Änderungen und Zerstörungen von Ökosystemen im Zuge einer immer intensiveren Ressourcennutzung – sei es im Rahmen der Landwirtschaft, der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen und Bodenschätzen oder des Ausbaus unserer Infrastruktur. Eine mittlerweile weithin bekannte Folge ist der voranschreitende Klimawandel. Andere Konsequenzen, vor allem jene für unsere Gesundheit, sind hingegen nicht so ohne Weiteres auf den ersten Blick zu erkennen.

      Wenn Sie mir bis hierher aufmerksam gefolgt sind, dann haben Sie zwangsläufig erkannt, dass wir wirklich sinnvolle, hilfreiche und fundamentale, weil lebensverändernde Einsichten nur dann gewinnen können, wenn wir alle oben genannten Teildisziplinen einer integrativen Sichtweise unterziehen. Wir müssen beginnen, systemisch zu denken, um uns dem Verständnis des unsichtbaren Netzes des Lebens zumindest annähern zu können.

       Systemdenken

      Systemdenken ist im heutigen Zeitalter der hoch spezialisierten Wissenschaften nicht bei allen beliebt, denn es erfordert, sich bis zu einem gewissen Grad auf unsicheres Terrain vorzuwagen, in dem wir nicht alles mit letzter Sicherheit vorhersagen können. Vieles entzieht sich einer exakten und einfachen experimentellen wissenschaftlichen Betrachtungsweise, denn Systeme bestehen selbst wiederum aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Einheiten und Subsystemen, die aus sich ständig verändernden Größen bestehen. Es gilt, in Prozessen zu denken und nicht in Zuständen. Ein simples Ja oder Nein, Richtig oder Falsch gibt es bei dieser Betrachtungsweise in der Regel nicht. Alle Teilaspekte und Systemgrößen existieren selbst wiederum nur als Produkt von anderen, zum Teil weitgehend unbekannten Größen. Die Vielgestaltigkeit lebendiger Systeme macht Vorhersagbarkeit nur bedingt möglich und erweckt häufig den Anschein von Chaos, denn wir haben es mit komplexen Regelkreisen, Prozesskreisläufen und in vielen Fällen noch unverstandenen Gesetzmäßigkeiten zu tun.

      Dennoch können unsere herkömmlichen wissenschaftlichen Sichtweisen und Methoden bis zu einem gewissen Grad Einblicke in die Funktionsweise zumindest von Teilaspekten komplexer Lebenssysteme geben. Wir sind zu einem großen Teil auf diese eingeschränkte Sichtweise von Teilaspekten angewiesen. Auch ich werde mich in diesem Buch hauptsächlich auf derartige Erkenntnisse beziehen. Wir haben keine anderen. Das ist so lange kein Problem, solange wir nicht in den Irrglauben verfallen, diese wissenschaftlich »objektivierbaren«, mikroskopisch kleinen Ausschnitte des großen Ganzen würden uns ein eindeutiges, konkretes und vollständiges Bild der Realität liefern. Allerdings, je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Teilgebieten zusammengetragen werden, desto eher sind wir in der Lage, einen kleinen Einblick in das komplexe Netz des Lebens zu erhaschen und unsere Verflechtungen mit diesem besser zu verstehen.

       Evidenzbasiert

      Interessanterweise sträuben sich manche Personen in Wissenschaftskreisen, das Adjektiv »reduktionistisch« auch nur in den Mund zu nehmen. Aber nichts anderes tun wir, wenn wir, den Anforderungen der evidenzbasierten Wissenschaft und Medizin folgend, mehr oder minder simple Experimente durchführen, um statistisch signifikante Ergebnisse zu gewinnen. Jede noch so ausgeklügelte doppelblinde, randomisierte und (Placebo-)kontrollierte prospektive Studie (das wäre der wissenschaftliche Goldstandard) stellt eine Reduktion der komplexen Realität dar, die zwingend erforderlich ist, um gemäß der »guten wissenschaftlichen Praxis« die postulierten Hypothesen überprüfen zu können.

      Seit Mitte der 1990er-Jahre das Konzept der Evidence Based Medicine (deutsch: »auf empirische Belege gestützte Heilkunde«) in die Medizin Einzug gehalten hat, erfolgen viele ärztliche Maßnahmen auf Basis der zunehmend verfügbaren »evidenzbasierten Leitlinien«. Das ist ohne jeden Zweifel sehr begrüßenswert. Von den »Gründungsvätern« der Evidenzbasierten Medizin (EBM) wurde diese ursprünglich aber durchaus differenziert als »gewissenhafter, ausdrücklicher und umsichtiger Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten« definiert.4

      Ein entsprechendes Fachwissen wird also von der Ärzteschaft gefordert, um mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung ihrem Versorgungsauftrag optimal nachzukommen. Diese »bestmögliche Evidenz« ist aber erstens mit einem zum Teil enzyklopädischen Wissen verbunden und zweitens durch die geforderten Studiendesigns der EBM nicht für alle Fragestellungen immer und zweifelsfrei zu generieren. Gerade was die schiere Komplexität der lebenslangen Umwelteinflüsse, der Ernährung und damit verbundener zellulärer Mechanismen inklusive der menschlichen Genetik betrifft, müssen wir uns in vielen Fällen mit geringeren »Evidenzgraden« zufriedengeben und uns auf nachgewiesene Mechanismen (z. B. auf zellulärer und molekularer Ebene), Beobachtungen und empirische Erfahrungen verlassen. Es wäre daher vermutlich sinnvoller, von einer »wissenschaftsbasierten Medizin« zu sprechen.

      Große randomisierte und kontrollierte Studien mit Tausenden Teilnehmern und entsprechender wissenschaftlicher Evidenz in Form von statistischen Signifikanzen liegen vor allem für pharmazeutische Produkte vor, da diese kostenintensiven Untersuchungen zu einem beträchtlichen Teil von den Herstellerfirmen finanziert werden. Das ist durchaus üblich und, solange dabei Objektivität herrscht, absolut vertretbar und begrüßenswert. Dass bei gesponserten Studien erheblich häufiger das »erhoffte« Ergebnis herauskommt als bei öffentlich finanzierten, zeigt aber, dass man sich auf die geforderte Objektivität nicht immer verlassen kann.5

      Der

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