Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger
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Zu diesem Schluss kommen immerhin die evidenzbasierten Ergebnisse von Studienauswertungen der Cochrane Collaboration, einem globalen, unabhängigen Netzwerk aus Wissenschaftlern, Ärzten und Angehörigen der Gesundheitsfachberufe.
Dafür kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass sich die weitverbreitete Praxis der standardisierten Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Geburt negativ auf die Entwicklung des delikaten kindlichen Darmmikrobioms auswirkt und damit möglicherweise auf den Gesundheitszustand des Kindes im Verlauf seines Lebens.13
Sämtliche medizinische Richtlinien und Empfehlungen zur Antibiotikaprophylaxe bei positivem Nachweis von Streptokokken stammen aus einer Zeit, in der man über die gesundheitliche Bedeutung des Darmmikrobioms noch nichts wusste.
Daraus lässt sich aber keinesfalls reflexartig ableiten, dass eine Antibiotikatherapie keine sinnvolle ärztliche Maßnahme darstellt. Das ist sie nämlich zweifelsohne, allerdings nur unter gewissenhafter Abwägung der Vor- und Nachteile im Rahmen der viel beschworenen, aber in letzter Zeit deutlich in den Hintergrund getretenen ärztlichen Heilkunst.
Im Falle eines positiven Nachweises von Streptokokken der Gruppe B, einhergehend mit der Gefahr einer Neugeborenen-Infektion, besteht vermutlich vor allem bei Vorhandensein von zusätzlichen Risikofaktoren wie Frühgeburt (vor der 37. Schwangerschaftswoche), niedriges Geburtsgewicht, länger dauernde Geburt, frühzeitiger Blasensprung (mehr als 12 Stunden vor der Geburt), schwere Störungen der fetalen Herzfrequenz während der ersten Phase der Wehen und Schwangerschaftsdiabetes durchaus ein präventiver Nutzen einer Antibiotikaprophylaxe.
Es ist nur die undifferenzierte wie unkritische Verabreichung »mit der Gießkanne«, die, wie viele andere »standardisierten Maßnahmen« auch, das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausschüttet und ein Vorgehen nach dem alten medizinischen Ethos »primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare« (»erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen«) erheblich erschwert.
Luise hatte Glück. Sie konnte mithilfe einer vertrauten, gut ausgebildeten und erfahrenen Hebamme und der Sicherheit eines gut ausgestatteten medizinischen Sicherheitsnetzes im Hintergrund ihre Bestrebungen nach einer »natürlichen und selbstbestimmten Geburt« mit so wenig medizinischer Intervention wie möglich verwirklichen. Diese Vorgangsweise wäre generell nicht nur wünschenswert, sondern in unserem Gesundheitssystem, im Unterschied zu zahlreichen anderen Ländern, in den meisten Fällen auch möglich. Allerdings ist nichts ohne Risiko, das betrifft in ganz besonderem Maße die Geburt, sei es nun im Krankenhaus oder zu Hause.
Sieht man von den durchaus bestehenden Risiken aber einmal ab, sind Schwangerschaft und Geburt bei genauerer Betrachtung eine unglaubliche Manifestation des unsichtbaren Netzes, das wir Leben nennen.
Ein Wunder für sich
Eine Schwangerschaft ist ein extrem komplexes und durchaus risikobehaftetes Ereignis, ohne dessen erfolgreichen Verlauf wir uns (weder Sie noch ich) innerhalb dieser Buchseiten nicht gefunden hätten. Grund genug, uns dieses Wunder kurz einmal näher anzusehen.
Die Entstehung eines neuen Menschen ist ein faszinierender Prozess, von dem wir noch lange nicht alle Details verstanden haben. Immerhin sollen sich innerhalb von neun Monaten aus einer einzigen befruchteten Eizelle später einmal die mehr als 300 verschiedenen Zelltypen eines Menschen an der anatomisch richtigen Stelle entwickeln.
Vorher muss sich der am siebten Tage bereits als kleiner Zellhaufen vorliegende Embryo aber erst einmal seine Versorgung sichern und in der Gebärmutterwand einnisten. Dabei entwickeln sich einige der Zellen zum Embryo, aus den anderen beginnt sich in den folgenden Wochen die Plazenta zu bilden. Letztere ist ein unterschätztes temporäres Organ, denn es dient dem ungeborenen Kind für die Zeit im Mutterleib gleichzeitig quasi als »Lunge«, als einzige Nahrungsquelle und als Abfallbeseitigungssystem. Das alles muss eine Plazenta leisten, während sie zusätzlich noch unerwünschte immunologische Vorgänge wie eine Abstoßungsreaktion zwischen zwei genetisch unterschiedlichen Organismen (Mutter und Kind) verhindern soll. Eine ausreichende Versorgung des Kindes mit Sauerstoff und Nährstoffen kann aber nur funktionieren, wenn sich die Plazenta beinahe wie ein invasiv wachsender Tumor tief in das mütterliche Gewebe der Gebärmutter eingräbt. Ein biologischer Balanceakt sondergleichen, der vermutlich erst durch die »Infektion« mit einem Retrovirus möglich wurde.
Plazentatiere wie Primaten, Nagetiere, Hunde und Katzen und deren Plazenten evolvierten vermutlich erst vor 150 bis 200 Millionen Jahren. Davor waren heranwachsende Embryos nur durch Eierschalen geschützt und erhielten ihre Verpflegung in Form eines Dotters.
Die »Infektion« mit dem angesprochenen Retrovirus (ähnlich HIV) ermöglichte die Entwicklung der alles entscheidenden zellulären Barriere zwischen Mutter und Kind: des sogenannten Syncytiotrophoblastens, einer einzigartigen Verschmelzung vieler Zellen, ermöglicht durch ein virales Protein namens Syncytin, dessen genetische Information vor langer Zeit Teil unseres Erbgutes geworden ist.14
Doch auch mit dieser Barriere stehen Mutter und Fötus im Interessenkonflikt. Denn im Laufe der Evolution hat der Fötus Eigenschaften entwickelt, um die Physiologie der Mutter zu manipulieren und die Übertragung von Ressourcen wie Nährstoffe und Energie für die eigene Entwicklung zu erhöhen. Allerdings kann der Energiebedarf des Wachstums eines zweiten, energiehungrigen Gehirns im Mutterleib eine Frau gegen Ende der Schwangerschaft metabolisch an ihr energetisches Limit bringen. Der Körper der Mutter hat daher Gegenmaßnahmen entwickelt, um einen übermäßigen Ressourcenfluss zu verhindern. Überschreitet schließlich der fetale Bedarf an Nährstoffen die Möglichkeiten der Mutter, endet die Schwangerschaft und die Geburt beginnt. Bis dahin aber handelt es sich aus biologischer und physiologischer Sicht bei einem Fötus um so etwas wie einen Parasiten, einen gutartigen Tumor, oder ein nicht abgestoßenes, genetisch fremdes Transplantat.
Und noch etwas Erstaunliches findet zwischen Fötus und Mutter statt, wofür die Wissenschaft derzeit nur unzureichende Erklärungen hat. Im Laufe der Schwangerschaft passieren offenbar einzelne fetale Zellen die Plazenta und gelangen so in den Blutkreislauf der Mutter. Wie Stammzellen sind auch fetale Zellen pluripotent, was bedeutet, dass sie sich in viele Gewebearten »verwandeln« bzw. differenzieren können. Im Blut der Mutter angekommen, zirkulieren diese Zellen im Körper und lagern sich in verschiedene Gewebe ein, wo sie sich über chemische Hinweise von benachbarten Zellen ganz unauffällig in das umgebende Gewebe integrieren können. Dieses Phänomen wurde vor mehreren Jahrzehnten entdeckt, als im Blut einer Frau mehr oder weniger zufällig männliche DNA nachgewiesen wurde. Der wissenschaftliche Ausdruck hierfür ist Mikrochimärismus, benannt nach Chimära, einem Mischwesen der griechischen Mythologie.
Mikrochimärismus kann besonders komplex werden, wenn eine Mutter neuerlich schwanger wird. Das Vorhandensein von fetalen Zellen im Körper der Mutter könnte sogar regulieren, wie schnell sie wieder schwanger werden kann. Die Entdeckung dieses Phänomens und seine mögliche Grundlage für zahlreiche noch unverstandene medizinische Folgen hat ein gänzlich neues Forschungsfeld eröffnet.15
Doch zurück zur frühen Phase einer Schwangerschaft. Ab dieser Zeit befindet sich ein Embryo in einer absolut kritischen Entwicklungsphase. Schädigende Faktoren wie Alkohol, Nikotin, Mangelernährung, Infektionen und zahlreiche andere Umwelteinflüsse können schwerwiegende und weitreichende Folgen für die weitere Entwicklung haben. Das Problem dabei ist, dass eine werdende Mutter zu diesem Zeitpunkt in der Regel noch gar nicht weiß, dass sie schwanger ist. Einer der ersten Hinweise während dieser Zeit ist die Übelkeit. Aus evolutionärer Sicht eine sinnvolle Einrichtung, denn sie reduziert die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme von potenziell den Embryo schädigenden Substanzen.