Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger
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Um die 12. Woche können Gynäkologen im Ultraschall unter Umständen bereits das Geschlecht des werdenden, ca. vier Zentimeter großen Kindes erkennen, das davor, im Frühstadium der Entwicklung, noch indifferent angelegt ist. Nur aufgrund der Informationen auf einem ganz kleinen Genabschnitt des männlichen Y-Chromosoms verläuft die Embryonalentwicklung weiter in Richtung männlich.16
Ohne dieser Information würden sich die embryonalen Geschlechtsanlagen gewissermaßen standardmäßig in Richtung weiblich differenzieren. Von wegen, Eva wurde aus einer Rippe Adams geformt …
Ein entscheidendes Element des Lebensnetzes, ohne das weder menschliche Evolution noch Nachwuchs möglich wären, sind die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt angelegten mehreren Millionen von Eizellen in den winzigen Eierstöcken weiblicher Föten. Sie werden ab diesem Zeitpunkt nur noch weniger. Neue Eizellen werden, im Gegensatz zu den zeitlebens neu gebildeten männlichen Samenzellen, nicht produziert. Bereits zum Zeitpunkt der Geburt sind es schon erheblich weniger und bei Erreichen der Pubertät nur mehr ein paar Hunderttausend. Im Laufe des Lebens einer Frau werden im Zuge des Eisprungs überhaupt nur wenige Hundert ausgereifte Eizellen freigesetzt.
Spätestens nach den ersten drei Monaten der Schwangerschaft ist es bei den meisten Frauen dann offiziell: Sie und ihr Umfeld wissen nun, dass ein Baby erwartet wird. Die kritische Phase der Entwicklung mit der Anlage aller Organe ist nun ebenfalls vorüber. Auch die Übelkeit ist in Übereinstimmung damit verschwunden.
In den folgenden Wochen und Monaten wächst und reift der Fötus weiter. Die werdende Mutter muss jetzt »für zwei essen« und die Umstellungen in ihrem Körper (inklusive der Bakterien in ihrem Darm) führen dazu, dass sie aus der aufgenommenen Nahrung deutlich mehr Energieausbeute erzielt.17
Um die 17. Woche sind auch die Ohren schon so weit entwickelt, dass das Baby Geräusche wahrnehmen kann. Auch andere Sinne, wie etwa der Geschmackssinn, beginnen sich in der Folge zu entwickeln, was dem Baby ermöglicht, über das Fruchtwasser zu schmecken, was die Mutter mit der Nahrung zu sich nimmt. Möglicherweise der Beginn der kindlichen Geschmacksprägung.18
Fast schwerelos, wie ein kleiner Astronaut, schwebt das Kind, über die Nabelschnur mit dem Mutterschiff verbunden, während der nächsten Wochen und Monate in der Fruchtblase dem Geburtszeitpunkt entgegen. Während dieser Zeit reifen die Lunge, das Gehirn und andere Organe weiter heran, das Baby beginnt hell und dunkel zu »sehen« und Töne immer deutlicher wahrzunehmen.
Ungefähr ab der 35. Schwangerschaftswoche ist die fetale Entwicklung abgeschlossen und das ab jetzt nur mehr wachsende und an Gewicht zunehmende Kind bereitet sich auf den großen Schritt in die Welt vor. Jede einzelne Zelle des herangewachsenen Kindes besteht ausschließlich aus den von der Mutter während der Schwangerschaft über die Nahrung aufgenommenen Molekülen bzw. deren chemischen Elementen.
Allein über den erstaunlichen wie physiologisch komplexen Anpassungsvorgang im Zuge der Geburt könnte man sowohl aus Sicht der Mutter als auch aus Sicht des Kindes mehrere Bücher füllen. Tatsächlich aber müssen Mutter und Kind zum Zeitpunkt der Geburt, nach neunmonatigem Interessenkonflikt um energetische Ressourcen, mehr denn je kooperieren. Es geht um viel und der Geburtsschmerz scheint ein wichtiges Korrektiv zu sein. Bis zur Abnabelung bleibt die menschliche Geburt aber ein durchaus riskantes Unterfangen, das medizinische Entscheidungen so schwierig macht.
Ein erfolgreicher Geburtsvorgang ist aber mit der Abnabelung des Kindes und Ausstoßung der jetzt nutzlos gewordenen Plazenta keinesfalls zu Ende. Man könnte durchaus noch das erste Stillen als einen wichtigen Teil der Geburt bezeichnen, denn durch das dabei im mütterlichen Organismus ausgeschüttete Hormon Oxytocin wird die Gebärmutter zusammengezogen. Diese Nachwehen sind ein wichtiger Vorgang für die Mutter, der das Risiko für eine gefürchtete atonische Nachblutung reduziert.
Hier endet die Bedeutung des unscheinbaren, aus lediglich neun Aminosäuren bestehenden Hormons Oxytocin aber nicht. Es wird beim regelmäßigen Stillen ausgeschüttet und gilt als das menschliche Bindungshormon schlechthin (daher auch als Kuschelhormon bezeichnet). Auch fernab von Geburt und Stillen spielt Oxytocin eine zentrale Rolle bei der Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungen (Vertrauen und Empathie) und bei der Bewältigung von Stress. Selbst unser Essverhalten und unser Stoffwechsel scheinen seinem Einfluss zu unterliegen, wobei ein Mangel davon bei der Entstehung von Übergewicht beteiligt sein dürfte.19
Dieser kurze Ausflug an den Beginn des Lebens zeigt uns deutlich, dass fundamentale, komplexe Prozesse wie Schwangerschaft und Geburt durchaus störungsanfällig sein können und keineswegs immer problemlos verlaufen. Dennoch haben Jahrmillionen der Evolution lebenserhaltende Mechanismen entstehen lassen, die, wenn nicht durch abstrakte Vorstellungen und falsche Vorgaben behindert, einen positiven Ausgang in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ermöglichen.
Wie aufgeheizt die Diskussion um die Frage ist, ob eine Hausgeburt oder eine Krankenhausgeburt die sicherste Option sei, zeigte sich 2010, als eine aufgrund der mangelhaften Methodik heftig kritisierte Publikation erschien.20 Diese Auswertung mehrerer Studien der vergangenen Jahrzehnte aus mehreren Ländern schlussfolgerte mit einem einzigen vernichtenden Satz: »Weniger medizinische Eingriffe während einer geplanten Hausgeburt sind mit einer Verdreifachung der neonatalen Sterblichkeitsrate verbunden.« Dreimal dürfen Sie raten, wie in der Folge die skandalisierenden Überschriften in den internationalen Medien lauteten. Die unkritische Übernahme von einfachen und griffigen Aussagen, ohne sich über das Zustandekommen derartiger »Ergebnisse« ein differenziertes Bild zu machen, ist typisch und eines der größten Probleme in der Kommunikation und öffentlichen Wahrnehmung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Tatsächlich war die methodische Vorgangsweise der Studien mehr als fraglich, was sich auch in entrüsteten Kritiken und Gegendarstellungen in derselben Fachzeitschrift niederschlug.21
So wurden beispielsweise einerseits Daten aus Geburtsregistern der 1980er- und 1990er-Jahre aus einem einzigen US-Bundesstaat inkludiert und andererseits die Ergebnisse unterschiedlicher Länder in einen Topf geworfen. Dass das US-Gesundheitssystem nicht gerade zu den besten zählt, ist bekannt, auch die Tatsache, dass wir nicht mehr in den 1980er-Jahren leben. Gerade was die gesundheitspolitischen Maßnahmen in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt betrifft, gehen die meisten Länder eigene Wege. Die Daten fallen daher auch extrem unterschiedlich aus.
Die Ergebnisse einer Auswertung geplanter Hausgeburten (ohne Risikoschwangerschaften) aus Spanien wurde erst im April 2021 publiziert.22
Sie zeigten, dass Frauen ohne Risikoschwangerschaft im Zuge von geplanten Hausgeburten mit einer qualifizierten Hebamme eine höhere Wahrscheinlichkeit einer spontanen vaginalen Entbindung aufwiesen und diese mit guter Gesundheit der Mütter einhergingen. Darüber hinaus war das Risiko einer Krankenhausverlegung gering (10,7 Prozent) und die Rate des Stillens länger als ein Jahr mit 99 Prozent extrem hoch. Ähnlich positive Daten liegen u. a. aus British Columbia (Kanada)23, Norwegen24, Ontario (Kanada)25 und interessanterweise auch Nordamerika26 vor.
Eine groß angelegte Metaanalyse aus dem Jahr 2018 fand keine signifikanten Unterschiede in der Neugeborenensterblichkeit zwischen Krankenhaus- und von ausgebildeten Hebammen begleiteten Hausgeburten.27
Und schließlich belegte eine Auswertung von etwa 500 000 als Hausgeburt geplanten Entbindungen, dass es im Vergleich zu Krankenhausgeburten zu signifikant weniger Kaiserschnitten, Dammschnitten, schweren Dammrissen, Anwendungen von Wehenmitteln und mütterlichen Infektionen kam.28
Ein differenzierter Zugang, ohne ideologische Grabenkämpfe, zwischen der ärztlichen Geburtshilfe und Hebammen wäre also angebracht