Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger
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Wenn aber die Botschaft lautet, dass die Dinge kompliziert, unsicher und chaotisch sind, dass keine einfache Regel oder Kraft die Vergangenheit erklären und die Zukunft der menschlichen Existenz vorhersagen kann, gibt es erheblich weniger Möglichkeiten, diese Botschaft zu vermitteln. Differenzierte Behauptungen über die Komplexität des Lebens und unsere Unkenntnis seiner Determinanten eignen sich nicht für das Showbusiness.«
Das, liebe Leser, ist Kritik von einem Biologen, der seine Polemik durch ein beachtliches Lebenswerk hoch angesehener Forschung untermauern kann. Die differenzierte Vermittlung der komplexen Lebensrealität eignet sich nun einmal nicht für sensationelle Überschriften in unserer schnellen Medienwelt mit zunehmend kürzer werdender Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittskonsumenten. Auch einfache Antworten auf all unsere Fragen hinsichtlich Gesundheit, Krankheit und das Leben im Allgemeinen werden angesichts dieser Komplexität nicht ohne Weiteres möglich sein.
Wir werden aber dennoch sehen, dass trotz dieser unglaublichen Komplexität die Lösung für viele unserer großen Probleme »prinzipiell« ziemlich einfach wäre, ja geradezu auf der Hand liegt. Die Antworten finden wir vor allem durch Beobachtung der natürlichen Prozesse aller lebenden Ökosysteme und ihrer Bewohner.
Der Fehlschluss des »naturalistischen Fehlschlusses«
Bevor ich mit meinen Ausführungen ins Detail gehe, möchte ich noch ein paar wesentliche Punkte ansprechen und versuchen, diese zu klären, um wenig fruchtbringende Diskussionen von vornherein zu minimieren bzw. um ein paar Ausgangspunkte zu definieren, welche gewissermaßen als gemeinsame Diskussionsbasis dienen sollen.
Allzu gerne greifen sich manche – von tief verwurzelten »Wahrheiten« und undifferenziertem Fortschrittsglauben getriebene – »Kritiker« einzelne, zum Teil aus Platzmangel nur unscharf erläuterte Punkte heraus, um auf Basis ihrer Kritik zu ebendiesen Punkten dem Gesamtwerk oder gar dem Verfasser jegliche Redlichkeit und wissenschaftliche Qualifikation abzusprechen. Gerade Letzteres erfreut sich in unserer Zeit, erleichtert durch soziale Netzwerke und die damit verbundene Anonymität oder durch mehr oder weniger objektive, aber ebenso anonyme Wikipedia-Einträge, immer größerer Beliebtheit. Die durch derartige, auf Neusprech »Trolle« genannten, Unruhestifter verbreiteten Halbwahrheiten, einseitigen Sichtweisen und ad personam-Anfeindungen stellen ein ernst zu nehmendes Problem für eine demokratisch organisierte Gesellschaft, ihre Freiheit zur differenzierten Meinungsäußerung und damit schlussendlich unsere Zukunft dar.
Nachdem ich in meinem letzten Buch darlegte, warum synthetische Pestizide als überwiegend negativ für die menschliche Gesundheit und die Biodiversität von Ökosystemen zu bewerten sind, löste das offenbar bei einem (der erstaunlicherweise wenigen) Kritiker eine aggressive und undifferenzierte Hasstirade aus. Dieser Kritiker fühlte sich bemüßigt, mir jegliche Wissenschaftlichkeit angesichts dieser Behauptung abzusprechen, mich des »naturalistischen Fehlschlusses« zu bezichtigen und verstieg sich sogar dazu, seine emotionalen Ergüsse der Jury für das Wissenschaftsbuch des Jahres mitzuteilen, welches ebendieses Buch kurz zuvor als Wissenschaftsbuch des Jahres würdigte.
Der Vorwurf lautete, ich säße dem, wie er es nannte, »naturalistischen Fehlschluss« auf, dass alles, was aus der Natur komme, gut sein müsse, wohingegen alles, was künstlich wäre, schlecht und giftig sein müsse. Meine negative Einschätzung von Pestiziden und überhaupt das gesamte Buch seien fortschritts- und wissenschaftsfeindlich. Das, obwohl das Buch gänzlich auf den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen fußte und mit unzähligen Verweisen zu den einschlägigen Studien versehen ist. Ich war zunächst beinahe sprachlos. Bin ich tatsächlich irgendeinem »naturalistischen Fehlschluss« unterlegen?
Der auf den englischen Philosophen George Edward Moore (1873–1958) und sein Werk »Principia ethica« zurückgehende Begriff des naturalistischen Fehlschlusses (auch »Sein-Sollen-Fehlschluss« genannt) spricht im Grunde ein wissenschaftsethisches bzw. philosophisches Problem an, nämlich den irrtümlichen Versuch, nur aus der »Natur« der Dinge abzuleiten, wie diese sein sollten, und ihnen damit einen moralischen Wert zu unterstellen. Das ist dann doch etwas ganz anderes und zeigt, wie es um das wissenschaftstheoretische Verständnis derartiger Kritiker bestellt ist. Bei ausführlicher Beschäftigung mit den Aussagen manch selbst ernannter »Skeptiker« drängt sich einem das Bild von einer unerschütterlichen Fortschrittsgläubigkeit auf, das alles Althergebrachte, Bewährte und auf menschlichen Erfahrungen Beruhende ablehnt, selbst wenn diese den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen.
Da es im vorliegenden Buch in weiten Teilen wieder um neueste Erkenntnisse und Fortschritte (!) aus dem Bereich der Lebenswissenschaften, allen voran der Biologie und Medizin, geht, möchte ich an dieser Stelle noch ein paar Worte zu dem von mir lieber als »naturalistische Fehlannahmen« bezeichneten und tatsächlich weitverbreiteten Phänomen verlieren.
In der Tat verhält es sich so, dass viele Menschen, vor allem Laien, aber auch durchaus naturwissenschaftlich geprägte Akademiker, basierend auf einer gewissen Idealvorstellung von der »Natur«, der Fehlannahme aufsitzen, alles, was aus der Natur käme, sei gut und erstrebenswert, hingegen alles »Künstliche«, insbesondere Errungenschaften unseres Fortschrittes, wie chemisch-pharmazeutische Verbindungen, seien schlecht und daher rigoros abzulehnen. Diese Ansicht wurde mir auch immer wieder in Gesprächen mit Patienten vermittelt, die als überzeugte Anhänger von Naturheilverfahren und Alternativmedizin jegliche »schulmedizinische« Intervention ablehnten. Diese Sichtweise und die zugrunde liegende Argumentation ist zwar subjektiv in vielen Fällen verständlich, kann aber, was die Gesundheit betrifft, durchaus problematisch sein, fußen sie doch häufig auf eklatanten Fehlannahmen und einer simplen wie dichotomen Weltanschauung, wonach etwas entweder »gut« sei, vor allem wenn es aus der »Natur« stammt, oder eben »schlecht« sei, weil es synthetischen Ursprunges ist. Tatsächlich aber hat uns der medizinische und pharmakologische Fortschritt zahlreiche Segnungen beschert, ohne deren Wirksamkeit (natürlich inklusive in Kauf zu nehmender unerwünschter Wirkungen) einige von uns nicht mehr am Leben wären. Eine äußerst vernünftige und zukunftsweisende Form der ärztlichen Heilkunst ist die sogenannte Integrative Medizin. Sie verbindet konventionelle Medizin und wissenschaftlich erforschte komplementärmedizinische Verfahren zu einem sinnvollen Gesamtkonzept, um die individuell beste Therapie für Patienten zu finden und gleichzeitig Nebenwirkungen so weit wie möglich zu reduzieren.
Selbst zahlreiche Eigenschaften unseres Körpers sind per se nicht als optimal und daher gut einzustufen. Sie stellen, wie ich noch erläutern werde, in vielen Fällen Kompromisslösungen dar, die ihre Ursache in unserer evolutionären Vergangenheit haben. Wir sind nicht zwingend für Gesundheit und Langlebigkeit konzipiert, auch wenn das manche glauben. Diese Fehlansicht aufzulösen, ist eine entscheidende Grundvoraussetzung zum tieferen Verständnis der später zu besprechenden Inhalte. Nur weil also etwas in der Natur existiert, heißt das noch lange nicht, dass es notwendigerweise gesund oder erstrebenswert für uns Menschen sein muss. Das ist eigentlich recht einleuchtend, denn die Natur ist immerhin auch voller Giftschlangen, krankheitsübertragender Zecken, tödlicher Infektionserreger und giftiger Pflanzen. Auch Erdöl, Schwermetalle und radioaktive Isotope entstammen schließlich der Natur.
Allerdings ist die Annahme, dass etwas, das der Natur entspringt, auch gut für uns sei, nur bis zu einem gewissen Grad als Fehlannahme zu werten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich mit unserer Biologie oder der anderer Lebewesen in Einklang bringen lässt, ist um ein Vielfaches größer als etwas, das nicht der Natur entstammt oder nicht mit ihren Prinzipien in Einklang steht. Auch hierfür liegt die Ursache wiederum in der Evolution, genauer gesagt in der Koevolution der Organismen. Die natürliche Verflechtung komplexer, seit Jahrmillionen gemeinsam entstandener Lebensformen, Prozesse und Gegebenheiten zu verleugnen, müsste man daher, analog zu dem an sich schon fehlerhaften Vorwurf