Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger
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Und tatsächlich ist die Geburt eines Homo sapiens durchaus problembehaftet. Das Missverhältnis des kindlichen Kopfes zum weiblichen Geburtskanal ist bei Menschen im Vergleich zu anderen Primaten besonders auffällig. Die evolutionäre Entwicklung zu einem aufrechten Gang hat zu Veränderungen des weiblichen Beckens geführt, in deren Rahmen es zunehmend zu einem Missverhältnis zwischen Beckendurchmesser und kindlichem Schädel kam.
Eine klassische Kompromisslösung der Evolution, der wir in ähnlicher Form in diesem Buch noch öfters begegnen werden. Die Vorteile des aufrechten Ganges (z. B. freie Hände und soziale Interaktion) wurden quasi gegen Nachteile bei der Geburt »eingetauscht«. Unterm Strich dürften aber die Vorteile des aufrechten Ganges überwogen haben, das zeigt uns der Blick zurück. Aus Sicht der Evolution ist ein schmales Becken von Vorteil, vor allem für unsere Fortbewegung. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist. Vereinfacht könnte man aus evolutionärer Sicht sagen: Je schmäler das Becken und je größer das Kind, desto besser. Es liegt auf der Hand, dass das nur bis zu einem gewissen Punkt gut gehen kann, nämlich bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durch den Geburtskanal passt: Dann wird es abrupt fatal. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen als »Fitnessklippe« bezeichnet.4
Auch der Übergang zur landwirtschaftlichen Lebensweise vor etwa 10 000 bis 12 000 Jahren, als eine proteinreiche Ernährung von einer kohlenhydratreichen Ernährung abgelöst wurde, könnte zu dem Geburtsdilemma beigetragen haben. Eine aus simplen Kohlenhydraten bestehende Ernährung führt nämlich zu einem erhöhten Geburtsgewicht des Kindes und zu einer geringeren Körpergröße der Mutter. Es konnte nachgewiesen werden, dass eine geringere Körpergröße auch mit einem engeren Geburtskanal verbunden ist. Kleine, übergewichtige Frauen haben somit zumindest zwei unterschiedliche Risikofaktoren für Geburtsprobleme: eine kleinere Beckendimension und eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein großes Kind zu gebären.5 Zwischen 1980 und 2013 stieg zudem der prozentuelle Anteil an übergewichtigen und fettleibigen Frauen global von 29,8 Prozent auf 38 Prozent.
Wie wir noch sehen werden, führen eine mangelhafte Ernährung vor und während der Schwangerschaft (weltweit ist eine von drei Frauen mangel- oder fehlernährt) sowie Fettleibigkeit zu zahlreichen weiteren gesundheitlichen Risiken – sowohl für die Mutter als auch für das Kind.
Was auch immer die Ursachen für die durchaus auffällige Komplexität der menschlichen Geburt sein mögen, wir wissen jedenfalls, dass sie im Vergleich zu anderen Menschenaffen erheblich komplizierter verläuft.6
Der Umstand einer evolutionären Kompromisslösung liegt vielen Gesundheitsproblemen zugrunde und wird sowohl von der Medizin als auch der Allgemeinbevölkerung selten beachtet. Das Konzept, dass etwas nicht nur ausschließlich »gut« oder »schlecht« ist, sondern sich eben variabel verhält, weil es keinem perfekten Design unterliegt, passt so gar nicht in unser Weltbild, das wir uns zurechtgelegt haben.
Die Kaiserschnittraten variieren weltweit erheblich von knapp zehn Prozent in Sub-Sahara-Afrika über 15 Prozent in Israel, ca. 30 Prozent in Österreich und Deutschland bis zu etwa 55 Prozent in der Türkei oder Brasilien. Ein echtes »Becken-Kopf-Missverhältnis« (der Kopf des Kindes passt nicht durch den Geburtskanal) ist aber um ein Vielfaches seltener und liegt vermutlich im einstelligen Prozentbereich. Betrachten wir den weltweiten Durchschnitt der Kaiserschnittraten, so sind diese von rund sieben Prozent im Jahr 1990 auf heute 21 Prozent angestiegen.7 Eine Verdreifachung innerhalb von weniger als drei Jahrzehnten. Prognosen zufolge werden die Kaiserschnittraten in diesem Jahrzehnt noch weiter ansteigen. Allerdings ist hier nicht, wie von manchen vermutet, die Evolution am Werk, es handelt sich vielmehr, neben dem Problem des zunehmenden Übergewichtes von Müttern und Föten, um ein vorwiegend soziales Phänomen. Zusammen mit der zu verzeichnenden Abnahme des Stillens, vor allem in Ländern mit hohem Prokopfeinkommen, könnte sich die weiterhin zunehmende Kaiserschnittrate zu einer Gesundheitskrise ungeahnten Ausmaßes entwickeln.
Einem UNICEF-Bericht aus dem Jahr 2018 zufolge werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen noch fast neun von zehn Babys zumindest für eine gewisse Zeit gestillt. In Ländern wie Bhutan, Nepal und Sri Lanka sind es sogar 99 Prozent. Im Gegensatz dazu wird in Ländern mit hohem Einkommen mehr als jedes fünfte Baby überhaupt nie gestillt. Und wenn, dann häufig nur für kurze Zeit. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber im Wesentlichen auf gesellschaftliche Phänomene, steigenden Wettbewerb im Arbeitsumfeld von Frauen und deren mangelnde Unterstützung und Aufklärung bezüglich Stillen zurückzuführen. Eine Fahrlässigkeit westlicher Gesellschaften mit zahlreichen negativen Gesundheitsfolgen für Mütter und Kinder, wie sich im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt hat. Auch davon wird in diesem Buch noch die Rede sein.
Dennoch ist und bleibt die mittlerweile weitgehend routinemäßige Möglichkeit eines Kaiserschnittes eine große medizinische Errungenschaft. Denn vor der Etablierung des Kaiserschnittes, also bis in die 1950er-Jahre, endete eine Geburt für bis zu sechs Prozent der Kinder und Frauen in Europa tödlich.
Die moderne Medizin versucht aus nachvollziehbaren Gründen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (inkl. Antibiotikaprophylaxe, Wehenmittel, Anästhesie und Kaiserschnitt), Geburtskomplikationen und negative Gesundheitsfolgen für Mutter und Kind zu verhindern. Das ist zwar gut so, hat aber auch zu einer gewissen Form der Absicherungsmedizin geführt, denn Patientinnen und Patienten werden immer klagefreudiger und die Regressforderungen können im Falle eines vermeintlichen Geburtsschadens astronomisch ausfallen. Auch die Haftpflichtprämien sind in der Geburtshilfe in schwindelerregende Höhen gestiegen. Laut Deutschem Ärzteblatt müssen beispielsweise niedergelassene Gynäkologinnen und Gynäkologen, die als Belegärzte an Krankenhäusern in der Geburtshilfe arbeiten, im Mittel derzeit rund 60 000 Euro Jahresprämie für ihre Haftpflichtversicherung aufbringen.8
Es ist somit nicht verwunderlich, dass bei einer Krankenhausgeburt alle Register der modernen Schulmedizin gezogen werden, um einen Geburtsschaden so gut wie möglich zu verhindern. Allerdings steht diese Praxis mit dem Credo »So wenig wie möglich und nur so viel wie unbedingt nötig« in zunehmendem Konflikt.
Nehmen wir nur das Beispiel einer vaginalen Infektion mit speziellen Streptokokken in der Spätschwangerschaft. Sie sind eine mögliche Ursache für schwere Infektionen des Neugeborenen mit der Möglichkeit von neurologischen Langzeitfolgen und einer ein- bis dreiprozentigen Sterblichkeitsrate. Während der 1990er-Jahre begann man daher in vielen Ländern mit dem Screening von Schwangeren auf diese Bakterien, um im Fall eines positiven Nachweises standardmäßig eine intravenöse Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Geburt zu verabreichen.
Auch Luise wäre im Zuge ihrer ambulanten Krankenhausgeburt beinahe in den Genuss dieser Antibiotikaprophylaxe gekommen, da sie das Ergebnis des beim niedergelassenen Facharzt durchgeführten Streptokokken-Abstriches nicht zur Hand hatte. Kurz bevor ihr ein Arzt die Infusion verabreichen wollte, fiel ihr das Testresultat ihres Abstriches ein: negativ!
Hätte sie also die routinemäßige Antibiotikaprophylaxe erhalten, wären den Nachteilen keinerlei Vorteile gegenübergestanden. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen: Ein wesentlicher Grund, warum sich Luise für eine »natürliche« Hausgeburt entschieden hatte, war, dass sie selbstbestimmt über ihre Geburtsmodalitäten bestimmen wollte. Viele Frauen berichten, dass ihnen gerade diese Selbstbestimmtheit im Krankenhaus mit seiner Hektik und seiner alles bestimmenden Absicherungsmedizin nicht gegönnt wurde.9
Tatsächlich existiert aktuell keine oder nur eine geringe wissenschaftliche Evidenz für die generelle Sinnhaftigkeit einer Antibiotikaprophylaxe während der Spätschwangerschaft und der Geburt, um das Risiko unerwünschter Ereignisse für Mutter