Der gläserne Fluch. Thomas Thiemeyer

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Der gläserne Fluch - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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kann gut verstehen, wie schlimm ein solcher Gedächtnisverlust für den Ehepartner sein muss«, sagte Humboldt mitfühlend. »Haben Sie Rücksprache mit einem Arzt gehalten?«

      »Natürlich«, schniefte sie. »Wir waren sogar an der Charité. Ich nahm Richard unter dem Vorwand einer allgemeinen Gesundheitsüberprüfung mit und ließ ihn von Kopf bis Fuß untersuchen. Er wehrte sich nicht mal dagegen.«

      »Und was kam dabei heraus?«

      »Nichts. Die Ärzte attestierten ihm die Gesundheit eines jungen Mannes. Nur sein Gedächtnis sei etwas schwach, aber das könne bei Männern um die vierzig schon mal vorkommen, sagten sie. Ich aber wusste es besser.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Art seiner Vergesslichkeit, das war es, was mir Sorgen bereitete. Es waren ja nicht irgendwelche Kleinigkeiten, an die er sich nicht mehr erinnerte. Es waren Dinge, die eine große Bedeutung für ihn hatten. Weg, fort, verschwunden.« Sie schnippte mit dem Finger. »So, als hätte es sie nie gegeben. An andere Dinge erinnerte er sich dafür mit unglaublicher Klarheit. Zum Beispiel wusste er, wie viele Steinplatten auf dem Weg zu unserem Haus liegen und wie viele Seiten unsere Bibliothek umfasst. Überhaupt, Bücher …« Sie steckte das Taschentuch zurück. »Ganze Passagen konnte er mir aufsagen. Wörtlich zitiert und ohne den geringsten Fehler. Dafür wusste er nicht mehr, an welchem Tag sein Geburtstag ist.«

      »Vielleicht ist es eine bestimmte Form der Demenz«, warf Charlotte ein. »Eine krankhafte Form der Vergesslichkeit.«

      »Das war auch mein erster Gedanke, aber die Ärzte schlossen das kategorisch aus. Sie sagten, dafür sei sein Kurzzeitgedächtnis zu ausgeprägt.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nippte sie an ihrem Wein. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich mich an Sie gewendet habe.«

      Charlotte konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Es war bewundernswert, wie sehr sie ihre Gefühle unter Kontrolle hielt.

      »Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Humboldt.

      Gertrud Bellheim stellte das Glas zurück und sah dem Forscher fest in die Augen. »Ich möchte Sie einladen, mich und meinen Mann am Silvesterabend zu besuchen. Ich habe einige Gäste eingeladen, hauptsächlich Bekannte aus Richards Jugend. Ich möchte ihm das Gefühl vermitteln, umgeben von alten Freunden zu sein. Vielleicht hilft das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Es würde mir viel bedeuten, wenn Sie und Ihre Begleiter kommen könnten. Nicht nur, weil Sie einer seiner ältesten Freunde sind, sondern vor allem, weil Sie den Ruf haben, unerklärlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen.« Sie warf dem Forscher einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ganz recht, ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie scheinen genau der richtige Mann für eine solche Aufgabe zu sein. Selbstverständlich würde ich Ihnen dafür ein angemessenes Honorar zahlen. Was sagen Sie?«

      Humboldt lehnte sich zurück, tief in Gedanken versunken. Als er wieder sprach, klang seine Stimme gedämpft. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Um ehrlich zu sein, mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, immerhin ist Richard einer meiner ältesten Freunde. Ich habe das Gefühl, ich würde ihn hintergehen. Trotzdem nehme ich Ihre Einladung an. Was ich heute Abend erlebt habe, gibt mir Anlass zur Sorge. Vielleicht gelingt es mir ja tatsächlich, etwas herauszufinden.«

      »Danke. Vielen Dank. Sie ahnen nicht, was mir das bedeutet.«

      »Danken Sie mir nicht zu früh. Noch wissen wir nicht, womit wir es zu tun haben. Das Ergebnis ist vielleicht erschreckender, als wir beide uns das zu diesem Zeitpunkt vorstellen können. Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«

      »Aber gewiss. Was wollen Sie wissen?«

      »Welche Augenfarbe hat Ihr Mann?«

      Frau Bellheim war einen Moment sprachlos, dann erschien ein amüsierter Zug um ihren Mund. »Braun. Ein warmes, leuchtendes Haselnussbraun.«

      »Genau das hätte ich auch geantwortet. Ich erinnere mich sehr genau an seine Augenfarbe, ich habe lange genug ein Zimmer mit ihm geteilt.«

      »Und?«

      »Die Augen des Mannes da drin sind grün. Strahlend grün.«

      7

      Zur selben Zeit in New York …

      Max Pepper warf einen besorgten Blick nach Norden. Die 5th Avenue in Richtung Central Park war ein einziges Chaos. Etwa hundert Meter vor ihnen war ein Brauereigespann gegen eine Schneeverwehung gefahren und umgekippt. Hunderte von Litern Bier hatten sich über den Schnee verteilt und die Straße in eine glatte und stinkende Eisbahn verwandelt. Kutschen, Fuhrwerke und Omnibusse standen kreuz und quer, während Fahrer, Passanten und Polizisten um die Wette stritten, wer schuld sei und wen man dafür zur Verantwortung ziehen könne. Als ob sich dadurch irgendetwas ändern würde. Nicht mal die dicke Schneedecke konnte den Lärm mindern, der von vorn zu ihnen herüberschallte.

      Es ging weder vor noch zurück und Max hatte einen wichtigen Termin. Das Gebäude des Global Explorer an der Kreuzung zur 58th East war bereits in Sichtweite. Das Firmenlogo, ein gigantisches X mit dem Slogan »X-plore the world in one day« schimmerte im fahlen Licht der neu installierten elektrischen Glühlampen. Die zehn Flaggen, die eine Weltkugel umrahmten, hingen schlaff herunter.

      Max blickte durch die beschlagenen Scheiben, dann traf er eine Entscheidung. Er verließ den Bus, sprang hinaus in die Kälte und machte sich zu Fuß auf den Weg. Die Straße war rutschig und seine glatten Ledersohlen nicht eben geeignet für einen solchen Untergrund. Trotzdem schaffte er es, die anderthalb Kilometer zum Verlagsgebäude zurückzulegen, ohne einmal hinzufallen. Nur auf der breiten Treppe, die zum Haupteingang emporführte, geriet er einmal ins Straucheln. Er konnte sich jedoch gerade noch rechtzeitig am Geländer festhalten und gelangte so unbeschadet ins Innere.

      Die Redaktionsräume lagen im ersten Stock und Max war ganz schön aus der Puste, als er oben ankam. Wie durch ein Wunder standen die Türen zum Sitzungssaal offen. Sein Chef, Alfons T. Vanderbilt, hatte die Eigenart, sie nach einer festgesetzten Frist zu schließen, mochten die Redakteure nun anwesend sein oder nicht. Wer zu spät kam, musste draußen bleiben und durfte ein paar Tage später mit einer Abmahnung rechnen. Dreimaliges Zuspätkommen führte zur sofortigen Kündigung, mochte man auch noch so gute Gründe für die Verspätung haben.

      Heute jedoch war das anders. Max bemerkte die gebeugte Gestalt von Vanderbilts Leibdiener Aloisius Winkelman, doch dieser machte keine Anstalten, die Tür zu schließen.

      Das war seltsam.

      Bekümmert dreinblickend stand der Kalfaktor neben dem Eingang und polierte die Klinken. Als Max an ihm vorbei in den Konferenzsaal ging, gab er ein enttäuschtes Hüsteln von sich, dann schloss er die Türen.

      Es war siebzehn Minuten nach fünf.

      Vanderbilt stand am Fenster und blickte hinaus auf das verschneite New York. Sein massiger Körper und sein kugelrunder, kahler Kopf erinnerten Max jedes Mal an ein riesiges Baby, das man in einen Anzug gestopft hatte, doch das war nur ein flüchtiger Eindruck. Man tat gut daran, den Firmengründer nicht zu unterschätzen. Er war bekannt für sein cholerisches Temperament. In dem Moment, als Max den Saal betrat, fuhr er herum und blickte ihn über den Rand seiner goldenen Nickelbrille hinweg an. »Da sind Sie ja endlich, Pepper«, sagte er und sein Doppelkinn schwabbelte vorwurfsvoll. »Sie sind spät dran.«

      Max schlich an seinen Platz und stellte die Aktentasche ab. Die Schweinsäuglein verfolgten jede seiner Bewegungen.

      »Was soll ich bloß mit Ihnen machen?«

      Max überlegte

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