TENTAKEL DES HIMMELS. Heike Vullriede
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Nachsehen, mach es so kurz wie möglich, keine Kurzschlussreaktion jetzt, beschloss er, auch wenn ihm mehr nach Flüchten zumute war.
Wieder war da dieser unsinnige Schimmer Hoffnung, der inmitten seines Hirnwassers schwappte und der ihn mit dem Glauben an eine Chance überflutete. Vielleicht umspülte er ihn deshalb, weil Kai meinte, dieses eine Mal etwas ethisch Wertvolles zu tun. Diese Verfolgung, das alles hier, hatte er sich selbst eingebrockt. Er hätte sich die ganze Angst ersparen können. Aber nein, er musste ja dem Gottkönig in einem Anfall unfassbarer moralischer Stärke dessen Abscheulichkeit um die Ohren schleudern. Nun musste er da durch. Er selbst hatte an diversen Rückholaktionen Abtrünniger, und somit Verrätern, teilgenommen. Dass manch einer von denen weder zurückkehrte, noch dort ankam, wohin er flüchten wollte, war mehr als einmal seinem eigenen fragwürdigen Verdienst geschuldet gewesen. Warum sollte er annehmen, dass es ihm anders ergehen könnte? Wie konnte er damals nur glauben, alles würde gut gehen, als der Padre ihn einfach so aus seiner Kirche spazieren ließ? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Zögernd und mit Rauschen in den Ohren näherte er sich der Wagentür, in dem Wunsch, bloß ein Opfer seiner Angst zu sein. Doch drei Schritte vor dem Fahrzeug starrte ihn aus seinem eigenen Autofenster das Gesicht eines Mannes an, das er kannte, dessen aalglatte, nach hinten gegelten Haare im Licht der Tankstellenbeleuchtung verräterisch glänzten. Die rechte Hand Gottes! Wie gelähmt blieb Kai stehen, den Autoschlüssel in die Handfläche gekrallt. In diesem Moment spürte er eine Luftbewegung im Nacken, die ihm die Haare aufstellte. Kai riss den Kopf herum, sah die Faust des Kassierers auf sich zukommen und bückte sich instinktiv, um auszuweichen. Der Schlag verfehlte ihn. Er kämpfte mit seinem Gleichgewicht, hielt sich gerade noch, sodass er nicht fiel. Mit einem Schrei aus Angst und Schreck warf er sich gegen den Oberkörper seines Widersachers, mehr, um an ihm vorbeizurennen, als ihn umzuwerfen. Sie landeten beide auf dem Boden. Der Brustkorb des Jungen war hart und stieß in Kais Rippen, das Kinn traf ihn schmerzhaft am Jochbein. Kai stöhnte auf, kam auf die Knie und fasste sich ins Gesicht. Im Augenwinkel bekam er mit, wie der Mann aus dem Wagen stieg und langsam auf ihn zuschritt, während der andere sich vor ihm aufrichtete. Kai befahl seinen Beinen, aufzustehen. Taumelnd mühte er sich um Bewusstsein. Dann stieß er die beiden von sich, rannte los, kopflos, ohne nachzudenken. Weg von hier, nach vorn, ins Dunkle, immer weiter, bis in ein Maisfeld hinein, wo er über seine Füße stolperte und sich wieder aufraffte. Ganz so, wie es seine eigenen Opfer getan hatten, denen er gefolgt war. Ob ihm jemand hinterherlief, hörte er nicht. Zu laut pulsierte es in seinem Kopf. Vor ihm sah er nur die Dunkelheit und er spürte das Kratzen der Maisblätter auf seiner Haut, die er blind mit den Armen abzuwehren versuchte. Er rannte, griff orientierungslos in die Finsternis und fasste nach den umknickenden Halmen, als könnten sie ihm helfen.
Auf einmal war all das weg. Seine Beine trugen ihn nicht weiter und die Welt um ihn herum wurde noch schwärzer als zuvor. Sie hielten ihn von hinten fest. Die Flucht endete hier. Es wurde ihm sofort klar. Der Schimmer von Hoffnung in seinem Kopf verglimmte wie auf einem sich krümmenden Docht. Das war das Ende. Auf sein Gesicht legte sich etwas – ein kalter Film, den er mit dem eigenen Atem an Mund und Nase ansog und der auf seinen unbedeckten Augäpfeln kleben blieb. Kai zog nach Luft, wollte das Ding von seinem Kopf lösen, das sie ihm übergezogen hatten, aber sie hielten auch seine Hände fest. Mit aufgerissenem Mund lechzte er nach Sauerstoff, doch er behielt immer nur diese Folie im Mund, statt Luft zu bekommen. Sein Brustkorb schmerzte. Seltsam, jetzt dachte er an Lara – wie sehr er sie liebte und dass er sie vermisste und wie gern er sie in die Arme nehmen würde. Genau jetzt wusste er, warum er all das riskiert hatte: Nicht, weil er ein besserer Mensch geworden war – nein, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie zu belügen. Und nun tauchte sie im Geist vor ihm auf und lächelte ihn an, so nah, als könnte er sie berühren. War das ein Teil seines Lebens, das an ihm vorbeizog, wie es geschehen soll, bevor man stirbt? Aber er sah gar nicht sein gesamtes Leben vor sich, sondern nur Lara, wie sie ihn anlächelte mit ihrem verklärten Blick und jetzt wollte sie ihn küssen … doch dann gewann die Wirklichkeit. In den Ohren knisterte es bei jedem Atemversuch. Es war nicht einmal mehr Platz für ein Geräusch des Röchelns von ihm selbst. Gierig kämpfte seine zusammengefaltete Lunge um jeden Millimeter Ausdehnung. Es fühlte sich an, als wollten die Lungenflügel in ihrer Qual implodieren. Ihm wurde schwindelig … immer mehr … der Schmerz ließ nach, verschwand, und er merkte noch, wie er zu Boden sackte.
Der Friedhof
Eine Mischung aus Moder und Unkrautvernichter drängte sich in Peter Torbergs Nase, wie jedes Mal, wenn er das alte gusseiserne Tor aufschob. Den Geruch verband er mit dem Tod, mit der Beerdigung seiner Frau, und dem Dahinsiechen am Ende ihres Lebens. Er hasste diesen Beigeschmack des Todes, darum ließ er auf ihrem Grab Lavendel anpflanzen. Zumindest in Sommerzeiten maskierte der Duft der Staude den Mief des Friedhofs.
Welke Buchenblätter übersäten jetzt den feinen Schotterweg unter seinen Halbschuhen. Vom Nebel gehauchte Wasserperlen auf Schaft und Vorderkappe ließen das glänzende Leder rau aussehen. Nach ein paar Metern vereinten sich die braunen Blätter auf dem Weg mit den Resten von Nadeln und Zweigen einer vor Tagen geschnittenen Eibenhecke. Dahinter verbargen sich volle Abfallcontainer und Gartengeräte. Durch eine Lücke der mannshohen Einhegung konnte man die Gerätschaften erkennen. Für einen Moment verlor dort die Friedhofsatmosphäre das Stille und Andersartige. Peter schritt langsam vorbei, die kalten Hände in den Taschen seines schwarzen Dufflecoats vergraben. Das Gefühl, belauert zu werden, beschlich ihn angesichts der Hecke. Ob sie ihm bis hierher gefolgt waren? Er zögerte kurz, dann kehrte er um und zwang sich, zwei Meter in die grüne Einfriedung einzutauchen, um sich zu vergewissern. Nichts, auch kein verdächtiges Geräusch. Offensichtlich teilte keine einzige lebendige Seele die Einsamkeit mit ihm und alle anderen hier waren stumm, taub und blind.
Er setzte seinen Weg fort, noch immer schwanger mit der unangenehmen Ahnung, versteckte Augen könnten ihn beobachten. Peter passierte einige Grabsteine ihm unbekannter Toter, deren Namen er ungewollt mit jedem seiner zahlreichen Besuche mehr verinnerlichte. Sicher auch deshalb, weil er sich gern mit dem Lesen der Inschriften ablenkte, bevor er die Grabstätte erreichte.
Da lag sie. Claudia Torberg, geboren 14. Dezember 1960, gestorben 26. Mai 2018. Die Lavendelblütenstängel zeigten sich inzwischen entblößt, ihr Duft war am Anfang des Herbstes mit den vertrockneten Hülsen verflogen. So biss der Gestank der Friedhofsmischung weiter in seine Geruchsgänge und hielt den Gedanken an den alles umgebenden Tod aufrecht. Unwillkürlich malten sich Bilder in seinem Kopf. Nicht nur von ihrem ausgemergelten Leib vor dem Ende und vom wachsblassen Anblick des aufgebahrten Leichnams. Peter quälte die Vorstellung der fortschreitenden Verwesung, die Claudias dünne Haut im Sarg mehr und mehr zersetzte.
Es war früh am Morgen und noch immer dämmerig. Die Luft stand wie ein bewegungsloser Schleier. Feuchte Kälte kroch von unten in seine Hosenbeine. Eine Krähe hüpfte von Claudias Grabstein auf das Nebengrab, als sie ihn kommen sah. Die Mahnung seiner Großmutter fiel ihm ein, die ihn als Kind hatte schaudern lassen. Springe nie über Grabsteine, sonst greifen die Toten mit ihren Händen nach dir! Die beneidenswerte Krähe dachte sicher weder an den Tod noch daran, dass Claudia sie in die Erde ziehen könnte.
Sie hatten gekämpft, gemeinsam, zwei Jahre lang. Und wie! Nichts ließen sie unversucht, jede noch so kleine Chance ergriffen sie. All das blieb fruchtlos.
Peter legte eine frische rote Rose auf den polierten Marmorstein und wischte mit einem Taschentuch und Speichel den Vogelmist der Krähe weg.
»Du wolltest dich Gott zuwenden und verlorst dich in den Fängen eines abgöttischen Tentakels«, flüsterte er. »Und ich machte alles mit. Warum nur haben wir die wenige Zeit nicht anders genutzt?«
Wie konnten sie beide sich nur derart verlieren. Ein Geistlicher und Wunderheiler – was für ein Schwachsinn. Doch damals schien