TENTAKEL DES HIMMELS. Heike Vullriede
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Читать онлайн книгу TENTAKEL DES HIMMELS - Heike Vullriede страница 6
»Verschollen?«
»Ich lasse Ihnen das Schreiben des Herrn aus Düsseldorf da. Vielleicht schaffen Sie es, sich neben Ihren Kündigungen an die Mitarbeiter und den daraus resultierenden Konsequenzen damit zu beschäftigen.«
»Kemal … ich darf Sie doch beim Vornamen nennen?«
»Wenn es sein muss.«
»Was denken Sie über den Selbstmord meines Vaters? War er wirklich so labil, dass er diesen Schritt gegangen ist?«
»Was sagen Sie denn da? Was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Ich weiß nicht, das passte nicht zu meinem Vater. Nicht so, wie ich ihn kannte. Das habe ich den Polizisten auch gesagt.«
»Das hieße im Umkehrschluss, dass er ermordet wurde. Wer sollte so etwas tun? Können Sie sich nicht vorstellen, wie traurig und einsam jemand sein kann, der einen geliebten Menschen verloren hat? Der niemanden sonst mehr an seiner Seite hat, auch nicht den einzigen Sohn, der sich seit Jahren nur noch zu Weihnachten meldet.«
Jan hob den Kopf höher. »Sie werden unverschämt!«
»Ich dachte, Sie wollten meine Meinung hören.«
»Nein, nicht wirklich.«
»Ich arbeite immer noch für Sie?«
»Noch.«
Taxi nach Düsseldorf
Regen, dunkle Wolken, die den gesamten Horizont vereinnahmten, und das monotone Fahrgeräusch – seit Stunden zogen Bäume und Felder am Fenster vorbei. Die Scheibenwischer mühten sich unablässig um klare Sicht auf die unendlich scheinende Straße.
Angesichts dieser düsteren Stimmung und der versackten Haltung auf dem Rücksitz des Taxis blieb Jan nichts anderes übrig, als den Schlaf zu suchen. Stundenlanges Sitzen und Warten schien ihm unerträglich. Ohne Sicherheitsgurt an das Fenster gelehnt, die Knie hochgezogen, die verschmutzten Schuhe an den Vordersitz gedrückt, knautschte er sich aus seiner ausgebeulten Lederjacke erneut ein Polster für den Kopf. Immer wieder fiel sein Blick auf das ewig Gleiche am Rande der Autobahn.
»Geben Sie noch mal diese Geschäftsakte her«, brummte er.
Seinen Sitznachbarn Kemal schien die Fahrt ebenso mitzunehmen. Er spielte lustlos auf seinem Smartphone herum.
»Solcher digitaler Scheiß stiehlt Ihnen nur einen Teil Ihres Lebens«, stichelte Jan.
Er sah in umränderte Augen und auf eine angestrengt gerunzelte Stirn. Träge steckte der junge Mann das Handy ein und reichte ihm die Mappe.
»Irgendwann werden Sie so einen digitalen Scheiß dringend brauchen«, gab Kemal zurück.
»Nein, davon habe ich mich verabschiedet. Mein Leben funktioniert auch ohne.«
Jan blätterte und versuchte zu lesen – unmöglich, sich zu konzentrieren. Wortlos klatschte er die Unterlagen auf die Oberschenkel seines Mitarbeiters zurück. Er beobachtete ihn dabei genau – dessen erschrockenes Gesicht, der fragende Ausdruck. Ihn amüsierte die stumme Empörung, die ihm wie erwartet entgegenschlug.
»Ganz schön empfindlich, wie?«
Ein bisschen Provokation als aussichtsreiche Abwechslung zur Öde der Dienstreise – das war es doch.
»Ich bin Justiziar, kein Hafenarbeiter! Im Normalfall ist es heute nicht mehr nötig, eine raue Schale zu besitzen. Wissen ist gefragt und emotionale Intelligenz. Damit lässt sich mehr Geld verdienen.«
»Mein Geld, nicht wahr?« Jan bemühte sich um ein besonders breites Grinsen, von dem er wusste, dass es unausstehlich arrogant wirkte.
»Ihr Vater war diplomatischer im Umgang mit seinen Angestellten«, murrte sein Gegenüber.
»Dafür nenne ich Sie nicht Angestellter, sondern Mitarbeiter. Oder sollte ich Sie besser Alleinarbeiter nennen?«
Zweifelnd fixierte ihn der junge Mann.
»Das war nicht ironisch gemeint, wirklich nicht! Seien wir doch ehrlich, Sie arbeiten und ich ernte die Resultate. Ich habe Sie aus gutem Grund gebeten, mich nach Düsseldorf zu begleiten. Das alles ist Neuland für mich.«
Kemal löste die aufgekommene Starre seiner Gesichtsmuskeln. »Bei Ihnen weiß man eigentlich nie … also gut. Ich schätze, Sie hatten noch nicht viel Gelegenheit, sich mit den Grundlagen für unsere Verhandlungen vertraut zu machen …«
Schon jetzt gelangweilt winkte Jan Torberg nun doch ab. »Ach, wissen Sie was? Ich hab´s mir anders überlegt. Wenn ich schon höre, wie Sie das so monoton vortragen, wird mir schlecht. Bleiben Sie mir mit diesem Mist lieber doch vom Leib.«
In Torbergs Stimme lag etwas derart Abweisendes, dass Kemal vorsichtshalber ein paar entschärfende Minuten verstreichen ließ. Während er durch das Autofenster die ersten vorbeiziehenden Häuser des Ruhrgebietes beobachtete, fragte er sich, wie gefräßig Gier sein konnte. Sie fraß alles, was ihm früher einmal wichtig gewesen war … Selbstachtung, Stolz, Ehre … wo war das geblieben? Er betrachtete Torbergs schwarzen, ungepflegten Flusenbart, der das überheblich hochgezogene Maul umrahmte, das Kemal inzwischen hasste. Dieses Grinsen! Diese ständig zu Schlitzen geformten Augen, die vermuten ließen, dass Torberg gerade darüber nachdachte, wie er Kemal demütigen könnte! Wie lange konnte er das, des lieben Geldes wegen, noch ertragen? Nach diesem Einsatz in Düsseldorf würde Schluss sein, schwor sich Kemal. Danach wollte er sich endlich eine andere Arbeitsstelle suchen, die ihm das Selbstwertgefühl wiedergeben würde, welches er seit dem Tod des alten Torbergs vermisste. Er wollte noch mehr sparen und dann etwas Eigenes gründen – eine Kanzlei. Aber bis dahin musste er sich ducken, kriechen, säuseln, um so lange es ging das dicke, etwas zu üppige Gehalt einzustreichen. Seine einzige Möglichkeit, Torberg zu schaden.
»Hören Sie, Herr Torberg. Ich weiß, dass es Ihnen lästig ist, Papierkram zu studieren, aber wenn wir zu dem Meeting in Düsseldorf erscheinen, sollten Sie wenigstens die wichtigsten Leute mit Namen und deren Stellung kennen.«
»Dann tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
»Wenn Sie es wünschen, fasse ich noch einmal alles zusammen. Der Geschäftsführer unserer Beteiligungsgesellschaft …«
»… führt unser Geschäft.« Eine Bemerkung, die sein musste.
»… führte, Herr Torberg … führte! Der Mann ist seit Wochen unauffindbar, einfach verschwunden. Außerdem führte er den Namen Kai Holzmann und einen anschaulichen Lebensstil – etwas zu anschaulich, für ein Mitglied einer angeblich bescheidenen und uneigennützigen Vereinigung, wie ich finde.«
Wortlos lenkte Jan Torberg seinen Blick nach draußen. Verschwunden … was hieß das? Entweder war der Mann Opfer eines Verbrechens geworden oder er wollte bloß nicht mehr gefunden werden. Jan strich sich eine Strähne seiner vernachlässigten Frisur aus den Augen. Unterzutauchen, anonym sein Leben zu verbringen, in einer anderen Stadt, oder in einem fremden Land – weg von allem … manchmal wünschte er sich das. Ein neues Leben anfangen, vieles anders machen, eine neue Rolle in der Gesellschaft spielen, das unbeliebte Alte ablegen. Es wäre nicht die schlechteste Wahl für ihn. Einmal hatte er es bereits versucht, als