Berührungen. Gunter Preuß

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Berührungen - Gunter Preuß

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setzte sich wieder ins Gras, sah unruhig zum Haus, wo an einem Fenster für einen Augenblick der nackte Oberkörper Henriette Rauschs zu sehen war. Eine mädchenhaft reine Stimme sang das Lied von den beiden Königskindern, die zusammen nicht kommen können.

      »Singt sie nicht wunderbar?« Charly nickte, nahm sich die letzten Seiten seines Manuskripts und begann mit Predigerstimme vorzulesen, eines Künders frohe Botschaft. Dabei vergaß er alles um sich herum, er war im Gespräch mit sich selbst, erstaunt und beglückt über die gefundenen Worte.

      Wenn Charly ihm vorlas, fühlte Bernhard sich wie von zwei unterschiedlichen Händen berührt. Die eine war grob und rüttelte ihn. Die andere war ohne Schwere und streichelte ihn; ihr gab er nach. Es war die Geschichte ihrer Familie, die der Bruder erzählte, sie hörte sich gut an, lebendig und spannend wie ein Abenteuer. Über manches musste Bernhard lachen, wo er, als er es erlebte, geweint hatte. Charlys Buch erschien ihm wie ein großes Märchen, es wiegte den Zuhörer in Sicherheit, man wusste, das Gute siegte über das Böse, das Schöne über das Hässliche. In Charlys Buch war Rita noch ein langzöpfiges verträumtes Mädchen. Bolz und der tote Vater war dieselbe Person. Die Großeltern waren ein altes gütiges Königspaar. Werner und Charly waren unzertrennliche Zwillingsbrüder. Maria, die Mutter, lebte ohne Angst, immer zu kleinen liebevollen Neckereien aufgelegt und jederzeit zum Verzeihen bereit. Und in Jinnis, der Jüngsten, Augen schaukelte der Schalk.

      Charly hatte seine Lesung beendet. Er warf die Blätter ins Gras, saß mit gekreuzten Beinen und auf die knochige Brust geneigtem Kopf. Nach ein paar Sekunden fuhr er hoch, blickte Bernhard böse an und rief: »He, Kleiner, was sitzt du hier herum und kriegst den Mund nicht auf, was soll das heißen, was? Sag schon, was dir nicht gefallen hat, vernichte mich, ja, Himmel, worauf wartest du noch, nun rede schon, sag, dass dir’s nicht passt, was und wie ich’s sage! Hast du überhaupt zugehört, du Blödel, du?«

      »Ja – doch«, sagte Bernhard verlegen. »Mir gefällt’s. Es ist gut – schön, ja. Wie du das alles so sagst.«

      Charly sprang auf, hampelte durch den Garten, trat gegen Baumstämme und schrie: »Mir gefällt’s! Schön und gut! Verflucht noch mal! Gottverflucht noch mal!«

      »Mir gefällt es«, versicherte Bernhard, eingeschüchtert von dem verrückten Gehabe des Bruders. Charly kam zu ihm zurückgesprungen und ließ sich neben ihm aufstöhnend ins Gras fallen. Bernhard sagte: »Wirklich, Charly, ich weiß nur nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es gefällt mir. Das kannst du mir glauben.«

      Charly zog Bernhard in seine Arme, drückte ihn mit all seiner schwächlichen Kraft. Seine Stimme war dankbar bewegt. »Ich danke dir, Kleiner, Bruder, mein Gott, bin ich froh, ich weiß, dass du nicht lügst, nicht mehrstimmig zwitscherst wie all die verfluchten Vögel um mich herum. Gefällt’s dir also wirklich, ich hab’s geahnt, nein, ich hab’s gewusst, das wird ein großes Buch, aus den Händen werden’s sich die Leute reißen, das werden sie.«

      Charly sah welk aus wie eine Blume, in deren Blüte der Regen geraten war. Er blickte nun immer öfter zum Haus, als suche er Hilfe.

      Bernhard verabschiedete sich eilig. Charly nahm ihm das Versprechen ab, bald wiederzukommen, damit würden sie über alles reden, über die ganze verdammte Sippschaft, das verspreche er, jetzt müsse er arbeiten, das nächste Mal aber ...

      Bernhards Weggehen aus Charlys Paradies glich einer Flucht. Auf der Straße trat er in die Pedale, wagte nicht, sich umzusehen. Er wusste, Henriette Rausch kam sogleich aus dem Haus getrippelt. Charly barg seinen Kopf in ihrem Schoß und weinte wie ein kleines Kind. Bernhard schämte sich, für den Bruder, für sich, für alle. Er bezichtigte sich der Feigheit, des Verrates an der Wahrheit. Aber er brachte es nicht fertig, dem Bruder zu sagen, dass er mit seinem Schreiben log, dass er ihnen nicht nur andere Namen und ein anderes Aussehen gegeben hatte, sondern dass er sie leben ließ, wie sie nie gelebt hatten. Oh, Charlys Zauber war falsch. Seine Blumen waren aus Papier, die Sterne aus Flitter, die Herzen aus Stoff. Bernhard erschien es, als lebte der Bruder auf einem anderen Stern, von seinem Lichtjahre entfernt. Charly spielte nur Theater, und doch hätte Bernhard in seinem Stück liebend gern eine Rolle übernommen, vielleicht dass es ihm gelänge, Tränen und Lachen echt werden zu lassen.

      Liebgott (Aus der eigenen Haut, 2000)

      Die Flucht aus Schlesien war den Teichmanns endlos erschienen. Nun war der Krieg zu Ende, und sie hatten in Leipzig eine Wohnung gefunden. Dem Haus war von einer Bombe das Dach weggerissen worden. Sie wohnten zu fünft in einer nasskalten Erdgeschosswohnung. Im Haus und im dunklen Hinterhof roch es nach Fäulnis und Urin.

      Bernhard war dreizehn Jahre alt geworden. Er verliebte sich in irgendwelche Frauen, denen er hier und da begegnete oder die aus Zeitungskiosken von bunten Illustrierten seinen Blick auf sich zogen. Es waren blonde, blauäugige Frauen mit Engelsgesichtern und üppigen Körperformen.

      Aus tiefstem Herzen hasste er seinen Klassenlehrer. Herr Lohmers wurde von den Schülern Liebgott gerufen. Er war etwa fünfzig Jahre alt, groß gewachsen, hatte einen kleinen Buckel und ein faltiges Gesicht. Auf der entzündeten Nase saß eine Brille mit starken Gläsern, hinter der sich wachsame Frettchenaugen versteckten.

      In Bernhards Klasse gab es nur Jungen, die ständig in Prügeleien verwickelt waren. Sie lagen auf der Lauer, um einen Apfel oder ein Stück Brot zu erbeuten. Nach einer wilden Pausenschlägerei stand plötzlich Liebgott im Klassenzimmer.

      »Aber, aber. Was geht denn hier vor, meine Lieben?«, erkundigte der Lehrer sich mit milder Stimme. »Das sieht ja so aus, als wäret ihr ungehorsam.«

      Die Jungen rannten zu ihren Plätzen und standen soldatisch stramm. Nur Bernhard war nach Luft ringend stehen geblieben. Sein Kopf schmerzte, das Hemd war zerrissen, und sein Hunger war nicht gestillt.

      Liebgotts Gesicht verzog sich angewidert. Mit zwei Fingern fasste er Bernhards Hemd, ließ gleich wieder los, als hätte er sich verbrannt.

      »Pfui, du blutest ja.« Der Lehrer hielt ihm einen Taschenspiegel vor Augen.

      Bernhard sah in ein Jungengesicht, das anscheinend seins war. Der Lehrer fragte mit öliger Stimme: »Erkennst du dich?« Der Junge nickte widerwillig.

      Liebgott fragte mit öliger Stimme: »Bereust du dein tierisches Verhalten?«

      Bernhard schüttelte trotzig den Kopf.

      Liebgott zog ein Lineal aus seinem Jackenärmel. Bernhard streckt automatisch die Hände vor und schloss die Augen. Siebenmal spürte er einen brennenden Schmerz auf den Handflächen.

      Dann befahl Liebgott: »Stell dich mit dem Gesicht zur Wand. Und bis morgen schreibst du hundertmal in Schönschrift und ohne Fehler: Bernhard Teichmann ist seinem Lehrer ungehorsam. Nun bedanke dich bei mir, mein Junge, weil ich dir helfe, den rechten Weg zu finden.«

      Die Jungen begegneten einander und anderen Lehrern ungezügelt und unbarmherzig. Aber bei Liebgott waren sie wie hölzerne Puppen. Nur auf seinen Fadenzug standen sie vom Platz auf und setzten sich wieder. Sie sprachen nur, wenn sie vom Lehrer gefragt wurden.

      Liebgott war gehasst und gefürchtet von Schülern und Eltern. Wenn der Entscheid über die Versetzung in die nächsthöhere Klasse bevorstand, gaben die Eltern ihren Kindern Päckchen mit. In ihnen befanden sich ein paar Kaffeebohnen, ein viertel Stück Butter oder eine selbst gemachte Wurst. Die Jungen legten ihre Päckchen, auf denen ihr Name stand, vor der Mittagspause hinter die Tafel. Wenn sie vom Hofgang zurückkamen, waren die Päckchen verschwunden.

      Liebgott verkündete dann mit Predigerstimme: »Gutes

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