Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider
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Читать онлайн книгу Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider страница 17
Auch wenn es nicht stimmt. Auch wenn es eine Lüge ist. Ich kann Au-pair und das System nicht belügen. Doch ich kann Avna etwas vormachen. Also schweige ich und lasse sie ihre Schlussfolgerungen ziehen.
Ich höre Schritte vor meiner Tür. Stimmen.
Ist das …?
„Du weißt, dass das nicht Karina ist“, sagt Avna und zerstört jede Illusion von einer Lüge, die ich über meine Gefühle und Gedanken als Camouflage legen könnte.
Ich schweige und drehe mich weg, ignoriere Avna und schalte mein Display ein. Meine Finger springen über die Tastatur.
„Noem … Ich mache mir auch Sorgen um sie. Doch deine Ängste an Au-pair auszulassen, ist keine Lösung.“
Ich schnaufe und ärgere mich, dass ich Avna unbewusst damit signalisiert habe, dass ich ihr zuhöre. Meine Finger gehorchen mir nicht, sie zittern, landen auf den falschen Tasten und zerstören meinen Code. Die Programmierung ist hin. Ein alberner Versuch, etwas zu ändern. Zu simpel in einer Welt, die auf komplizierten Kombinationen von Zahlen basiert.
Wem mache ich etwas vor?
Ich bin nicht anders als Karina. Ich bin schlimmer.
Karina hat einen Weg gefunden, einen furchtbaren, ekelerregenden Weg, doch es ist zumindest einer. Und wenn sie fertig ist, am Ende angelangt, wird nichts mehr von ihr übrig sein.
Ich verabscheue und bewundere sie gleichzeitig dafür.
Selbst wenn es eine ähnliche Möglichkeit für mich gäbe, hätte ich den Mut und die Kraft, sie durchzuziehen?
Gegen meines besseren Wissens entschlüpfen mir die Worte: „Wird sie kommen?“
„Du weißt, dass sie nicht kommen kann. Sie will sicher hier sein. Doch momentan geht es nicht“, erwidert Avna traurig.
Ich bin erleichtert. Und enttäuscht.
Ich habe es nicht hören wollen, habe mich geweigert, mit Karina oder Avna darüber zu sprechen, und doch muss ich es wissen. „Was ist es dieses Mal?“
Avna schweigt, holt tief Luft und sagt: „Es ist ihr linkes Hüftgelenk.“
Das Hüftgelenk. Wie viel von ihr ist noch menschlich? Noch Haut, Knochen, Fleisch und Blut?
„Du weißt, dass es nur äußerlich ist. Dass sie immer noch Karina ist. Die Änderung wird dir nicht auffallen. Niemand wird sie sehen.“
Ja, niemand.
Karina …
„Ich lasse einen Transportbot kommen, der Au-pairs Körper zur Recyclinganlage bringt. Lass uns zusammen Karina besuchen. Nicht virtuell sondern auf dem veralteten Weg, in Fleisch und Blut.“ Als Avna klar wird, was sie gesagt hat, blickt sie zu Boden und dann, vom Anblick erschrocken, zur Decke.
Ja, Fleisch und Blut.
Ist es das, was einen Menschen ausmacht? Ihn menschlich macht? Wenn ja, wird Karina bald kein Mensch mehr sein. Mir ist schlecht. Ich möchte weinen. Und bin unendlich froh, dass Au-pair nicht da ist. Nicht auf die Signale reagiert, die mein Körper ohne meine Zustimmung aussendet.
Wird es an meinen Gefühlen etwas ändern, wenn Karina nicht mehr aus Fleisch und Blut besteht?
Der Tag wird kommen, da bin ich sicher. Vielleicht schneller als befürchtet.
Karina – OP
„Ich schaffe ein System, in dem alle gleich sind. Ein System, in dem alle Bedürfnisse befriedigt werden, ohne dass die Umwelt darunter leidet. Ein System, in dem alle Ressourcen gelistet, gerecht verteilt und recycelt werden.“
Programmierer 2079
Ich spüre nichts. Die Schmerzmittel betäuben meine untere Körperhälfte völlig. Als bestünde mein Körper nur bis zu meinem Bauch. Es ist erschreckend. Der Gedanke, dass ich keine Beine habe und nie wieder laufen oder rennen kann, würgt den Lebenswillen aus mir heraus und wirft getrocknetes Laub und Holz in das Feuer meiner Panik.
Ich setze mich mühevoll auf, taste die Decke entlang und atme erleichtert aus, als ich darunter die Form meiner Oberschenkel mit meinen Fingern spüre. Sie sind da. Meine Beine sind da. Ich lasse meine Hände auf den Oberschenkeln liegen, hoffe so, die Panik unter Kontrolle zu bekommen. Eine irrationale Angst, das ist mir bewusst, und doch ist es schwer, gegen sie anzukommen.
Die Operationen davor brachten keine so großen Nachwirkungen mit sich und es ist das erste Mal, dass ich sie spüre.
Die Angst.
Ich frage mich, ob wir zu behütet aufwachsen. Zu behütet leben. Ich fühle mich wie ein rohes Ei, das auf den Boden zurast – kurz davor zu zerschellen.
Ist der Mensch wirklich so fragil? Es hat eine Zeit vor den Bots gegeben. Eine Zeit, in der die Menschen selbst für sich gesorgt haben. Sie hatten keine Roboter, die sie Tag und Nacht begleiteten.
Wann sind wir so schwach geworden? So zerbrechlich?
Ich muss lachen. Denn ich bin diejenige, die sich das hier angetan hat. Ich habe mich in dem Bewusstsein, dass meine Schale nicht dick ist und das sie aufplatzen wird, von dem sicheren Regal fallen lassen. In der Hoffnung, dass etwas kaputt geht.
Und es ist etwas kaputt gegangen: meine Hüfte. Sie war zertrümmert. Jetzt habe ich zwei neue Hüftgelenke. Offiziell wurde nur das linke Hüftgelenk repariert. Damit ich aber ausgeglichen Laufen und gute Leistung erbringen kann, hat Trainer den Ersatz beider Gelenke erlaubt.
Ich bin erleichtert. Das bedeutet einen Unfall weniger. Und das wiederum weniger Schmerzen.
Die komplette Taubheit meiner Beine, von der Hüfte abwärts, ist furchterregend. Ich hätte mir nie ausmalen können, wie viel Kraft es mich kosten würde, nicht wie ein Kleinkind loszuheulen und zu schreien.
Ich habe kein Problem mit Schmerzen. Doch die Taubheit ist für mich schwer zu ertragen. Hätte ich dieses Gefühl gekannt, hätte ich vielleicht nicht die Kraft gehabt, den Unfall durchzuziehen.
Schmerz bedeutet Leben, Fortschritt und Verbesserung. Taubheit ist das Gegenteil. Die Nicht-Existenz schlimmer als der Tod. Die Unfähigkeit, sich zu bewegen. Der Tod des Willens. Denn so sehr ich es versuche, wie sehr ich mich auch konzentriere, bewegt sich nichts. Nicht einmal mein kleiner Zeh.
Mit jedem Muskelkater werde ich schneller, besser und effizienter. So war es jedenfalls am Anfang. Bis ich an die Grenzen stieß. Ich war bereit den Sport aufzugeben. Mich damit abzufinden, dass ich nicht besser werde, egal wie viel ich trainiere. Jeder hat Grenzen. Doch als ich angefangen habe, dachte ich nicht an sie.
Habe