Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider
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Dank meiner Mutter kenne ich Hektors Namen.
„Es ist alles noch dran“, erwidere ich nach einer langen Pause auf Noems Gemeinheit.
„Das ist wohl Definitionssache“, wirft er hinterher und blickt auf den Boden, als würde es dort etwas Interessantes zu sehen geben.
„Wir haben dir Blumen mitgebracht!“, lenkt Avna in ihrer Harmoniebedürftigkeit ein.
Avna … Sie ist der schönste Mensch, den ich kenne. Ohne, dass sie sich dafür zurecht macht. In den Kindern sieht man die Tendenzen der Eltern, ohne ihnen jemals begegnet zu sein.
Ohne dass sich unsere Interessen auch nur tangieren, sind wir doch Freunde geworden. Ist es die geographische Nähe? Weil wir die Welt im selben Hort spielerisch kennengelernt haben? Zu einer Zeit, als die Interessen noch nicht wichtig waren? Als wir die Welt zum ersten Mal entdeckten und das Seite an Seite?
Im Hier und Jetzt, während ich meine Beine nicht spüre, wünsche ich mich zurück in die Zeit, als alles einfach und neu war. Bevor sich unsere Interessen und somit unsere Wege herauskristallisiert hatten. Ich wünschte, dass die unsichtbaren Wände, die sich zwischen uns gebaut haben – nein, die wir um uns gezogen haben –, nicht existieren würden.
Doch wer wäre ich, wenn ich nicht besessen wäre vom Laufen, von Zeiten, Rekorden und Leistungen? Wer wäre Noem ohne sein Hacken und Knacken, Programmieren und Erfinden? Wer wäre Avna ohne ihre Liebe zur Kunst, zur Musik und Malerei?
Machen unsere Interessen uns aus?
Mein Blick gleitet zu meinen bewegungslosen Beinen. Bald werde ich schneller laufen können als jemals zuvor, sage ich mir.
Wie lange noch, bis wir uns so weit auseinandergelebt haben, dass wir uns nicht mehr erreichen? Noch hält uns die Schule zusammen, der Unterricht. Doch was wird, wenn wir die allgemeinen Fächer nicht mehr brauchen und unsere Neigungsfächer vertiefen? Oder wenn einer von uns die Gemeinschaft wechselt, weil die Lebensart einer anderen passender für ihn ist?
Viele Gemeinden sind wie unsere: Ein nachbarschaftliches Zusammenleben ohne zu viel Interaktion. Doch in Gemeinschaftskunde lernen wir immer mehr Lebensweisen kennen. Spezifische Gemeinden sind seltener und liegen meist abseits.
Für mich ist die Gesellschaft der Zäune, über die man sich freundlich ein- bis zweimal am Tag zuwinkt, gut. So kann ich mich ganz auf mich selbst konzentrieren. Noem geht es ähnlich. Er braucht niemanden um sich und scheint sich im Netz wohlzufühlen. Auch wenn sein Verhalten mir seit einiger Zeit Rätsel aufgibt.
Doch Avna … Avna braucht Nähe. Direkte Nähe. Es gibt Gemeinschaften, die besser für sie geeignet wären. Ich habe ihre Augen leuchten sehen, als der Gemeinschaftslehrer von der Hippiegemeinde erzählt hat. Kinder werden dort von allen erzogen. Es gibt keine direkten, biologischen Eltern. Die Geburt eines Kindes kann natürlich vonstattengehen, oder in Brutkästen. Es werden keine Listen geschrieben und die Kinder sind eine natürliche Kombination aus dem Genpool zweier Menschen.
Ich erschaudere bei dem Gedanken an das Chaos der Zufälligkeit. Ohne Kontrolle fühle ich mich verloren. LEEs sind dort überflüssig und die Avatare bleiben virtuell.
Ich stelle mir eine Welt ohne Trainer vor und mir wird schlecht.
Gerade Avna, die eine so enge Beziehung zu ihrer LEE hat, dass ihr allein bei dem Gedanken, ihre Nanny könnte irgendwann nicht mehr da sein, Tränen in die Augen schießen, müsste diese Tatsache ebenso abschrecken. Was Avna braucht ist Nähe und in der Welt der Zäune und Eltern, die sich selbst verwirklichen, ist die LEE die einzige Quelle für Nähe.
Und Freunde. Je weiter wir uns voneinander entfernten, desto enger bindet sich Avna an ihre Nanny.
Für Noem wäre die virtuelle Gemeinschaftsmatrix passend. Die Bewohner verbringen die meiste Zeit in der virtuellen Computerwelt. Ihre Körper werden in Tanks aufbewahrt, die sie wie ein Mutterleib oder Brutkasten ernährt, während sie ihr Leben in der virtuellen Realität führen.
Beide Gemeinschaften liegen weit weg von dieser. Und ich frage mich kurz, ob ich Noem und Avna wegstoße, weil ich weiß, dass sie mich hier zurücklassen werden.
„Wie schlimm ist es dieses Mal?“, frage ich, mehr um mich abzulenken, als dass die Antwort mich wirklich interessiert.
Noem schweigt. Als Kind war er redselig, hatte immer einen Spruch auf den Lippen. Jetzt bekommt er kaum einen Satz heraus. Nur seine Augen klagen mich täglich an. Weil ich nicht bin, wie er mich gerne hätte.
Avna antwortet an Noems Stelle. „Ihr Körper wird zur Recyclingstation gebracht.“
„So schlimm also … Was hast du nur mit Au-pair gemacht? Du kannst deine Wut nicht immer an ihr auslassen“, sage ich und weiß nicht warum. Es geht mich nichts an.
„An wem sonst? An mir selbst, so wie du es tust, oder an dir?“, erwidert Noem zornig und verletzt mich mit diesen Worten. Er sagt mir so direkt wie es geht, dass er es weiß. Dass er weiß, warum ich so oft verletzt bin. Ich blicke ihn streng an. Er darf es nicht aussprechen. Wenn er es trotz Trainers Anwesenheit vollends ausspricht, wird es Konsequenzen haben. Dann bin ich es vielleicht, die in eine Anstalt wandert.
„Wie wäre es, wenn du es an der Person auslassen würdest, die für deine Wut verantwortlich ist?“ Und als sein Blick meinen trifft, weiß ich, warum er es getan hat.
Ein Blick. Mehr braucht es nicht. Ich bin nicht dumm. Ich habe bemerkt, dass er mich mit anderen Augen ansieht. Wann es passiert ist und was es hervorgerufen hat, kann ich nicht sagen. Doch ich weiß, dass er mehr in mir sieht als eine Freundin.
Und das macht ihn wütend. Er ist zornig darüber, dass er ein verrücktes Mädchen mag, das sich nach und nach in einen Roboter verwandelt, um schneller laufen zu können. Um vor sich selbst davonlaufen zu können.
Und sein Zorn macht mich wütend. Wären meine Beine nicht taub und nutzlos in diesem Moment, würde ich davonrennen. Es ist mein Körper, meine Entscheidung und mein Leben. Er hat kein Recht, meine Entscheidungsfreiheit durch seine Gefühle einzuschränken.
Deshalb sage ich kalt: „Ich habe dich nicht darum gebeten. Wenn du nicht damit zurechtkommst, wie ich bin und wie ich mich entwickelt habe, sollten wir vielleicht keine Freunde mehr sein.“
„Es war ein Fehler herzukommen“, sagt Noem, dreht sich um und geht.
„Versuch‘ niemanden auf deinem Nachhauseweg zu töten!“, rufe ich ihm in meiner Dummheit und meiner Gemeinheit hinterher. Er dreht sich nicht um, erwidert aber: „Du meinst ermorden.“ Dann fällt die Tür hinter ihm zu.
Ich bin alleine mit Avna. Von Trainer und Nanny abgesehen.
„Du weißt, dass er sich nur Sorgen macht? Um dich Sorgen macht?“, flüstert Avna.
„Er sollte sich um sich selbst Sorgen machen. Wenn er sich nicht unter Kontrolle bekommt, werden seine sie Maßnahmen ergreifen, wenn sie eine Gefahr für die Gemeinschaft erkennen.“
„Noem ist nicht gefährlich! Er ist wütend und sieht in Au-pair das, in was du dich seiner Meinung nach verwandelst“, entfährt es Avna. Sie ist selten so direkt.
„Du gehst jetzt besser auch, Avna.“