Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

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Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider

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wichtiger als der Akt selbst?

      Wann bin ich gelaufen, nicht um frei zu sein, sondern um schneller zu sein als das letzte Mal?

      Ich kann es nicht sagen.

      Könnte Trainer es? Ist in seinen Aufzeichnungen vermerkt, wann ich das Lachen verloren habe, den Spaß? Trainer registriert alles, archiviert und agiert entsprechend. Trainer hat mich nach den Vorstellungen meiner Eltern geformt, mir beim Aufwachsen geholfen, mich effizient gemacht, wo ich effizient sein wollte. Ich musste es nur sagen.

      Er hat mein Trainingsprogramm zusammengestellt. Meinen Ernährungsplan perfektioniert. Mich perfektioniert. Bis es keine Luft nach oben mehr gab.

      Ich bin schnell. Schneller als jeder andere in der Gemeinschaft oder den Gemeinschaften innerhalb eines Hundert-Kilometerradius‘. Und es hätte mir gereicht, wenn ich nicht über den Tellerrand geschaut hätte. Wenn ich ihm nicht begegnet wäre. Wenn ich nicht gestolpert und meine Sehnen irreparabel geschädigt hätte.

      „Keine Angst!“, hat er gesagt und mich im Arm gehalten. „Keine Angst! Du wirst wieder laufen können. Und du wirst schneller sein als zuvor.“

      Hätte ich das Laufen aufgegeben, wenn er mir nicht versprochen hätte, dass ich schneller werden würde? Hätte ich mich etwas anderem zugewendet, wenn ich nicht tatsächlich schneller geworden wäre?

      Während ich meine Beine nicht spüre und im Bett liege, weiß ich, dass es nur eine weitere Grenze ist, die nach all den OPs auf mich wartet. Doch ich kann nicht aufhören. Nicht, bis diese Grenze erreicht ist.

      Es ist eine Sucht. Ich weiß das.

      Wird er am Ende, wenn die Grenze erreicht ist, auf mich warten? Wird er da sein und mich in den Arm nehmen und mir eine neue Grenze zeigen, auf die ich hinarbeiten kann?

      Wie kann eine Begegnung – ein Lauf – ein ganzes Leben ändern, einen Körper? Meinen Körper?

      Die Verbesserungen sind wie ein Rausch.

      Mit jeder Operation werde ich effizienter, stärker, schneller, besser. Kann ich bei meinen Beinen aufhören? In welche Richtung werde ich gehen, wenn ich mich beim Laufen nicht mehr steigern kann?

      Ich bin kein Mannschaftsport-Typ. Das habe ich früh erkannt. Dafür bin ich zu ehrgeizig. Ich weiß, dass mein Vater sich Ehrgeiz gewünscht hat. Es stand ganz oben auf der Liste der Wunscheigenschaften. Dank Noem weiß ich das. Oder wegen Noem? Könnte ich mich von dem Wissen trennen, wie von geliebten Laufschuhen, die ich irreparabel verbraucht und zerschunden habe, die ich zum Recyceln abgebe?

      Wäre es leichter, wenn ich es nicht wüsste? Würde es etwas ändern?

      Ein vorgeschriebener Plan meines Lebens. Es hat eine Schwere an sich und eine Leichtigkeit zu wissen, dass es nicht die eigene Entwicklung, Neigung oder gar Interessen sind, die einen zu dem gemacht haben, was man ist. Bei mir jedenfalls. Ich weiß, was man sich von mir erhofft. Ich weiß, wo meine Stärken liegen. Und das ist gut. In einer Welt, in der alles möglich ist, all deine Wünsche erfüllt werden, ist es gut, wenn man eine Richtung vorgezeigt bekommt.

      Nicht alle Lebenspläne, wie ich sie heimlich nenne, sind eindeutig. Ich kenne nur Noems, Avnas und meinen. Und nur aus meinem ist ersichtlich, was ich kann und können werde. Auch wenn ich es nicht zeige, habe ich Mitleid mit Avna. Sie ist erschaffen worden, um schön zu sein und Kunst zu lieben. Mehr nicht. Keine bestimmten Talente, Fähigkeiten oder Neigungen. Kunst und Musik. Ohne Spezifizierung.

      Noems Liste ist widersprüchlich, hat sich nach einem Kompromiss zweier Menschen angefühlt, die nicht unterschiedlicher sein könnten.

      Ist er deswegen so seltsam geworden?

      Seine LEE außer Funktion zu setzen, das passiert bei eifrigen Kindern schon mal. Besonders, wenn sie sich für Technik und Software interessieren. Aber nicht mehr in seinem Alter, nicht so und nicht dreimal in so kurzer Zeit.

      Au-pair hat ihn noch nicht gemeldet. Sie ist sicher noch bei der Analyse und auf der Suche nach einer Diagnose. Doch wie oft wird sie es noch durchgehen lassen, ohne den Fehler nicht bei sich zu suchen, sondern bei Noem?

      Ich möchte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Noem als Fehlfunktion eingestuft werden würde. Eine akribische Genkontrolle, flexible Protokolle in der Entwicklungsphase und Verhaltenskorrekturen verhindern jede Form von Geisteskrankheiten. Und es ist seit Jahrzehnten kein Fall mehr an die Öffentlichkeit gedrungen, der nachweisbar wäre.

      Was man mit einem kranken Menschen machen würde, ist nicht ganz klar. Ich habe recherchiert, aber nur wenige Aufzeichnungen über die Maßnahmen in den Kliniken für Geisteskranke gefunden. Laut Noem machen sie uns nur Informationen zugänglich, die sie als ungefährlich einstufen.

      Für mich eine sinnvolle Kategorisierung.

      Fehlinformationen können gefährlich sein.

      Propaganda hat in der Geschichte der Menschheit viel Schlimmes geschaffen. Eine Filterung der Informationen ist sinnvoll. Vor allem auch nach Interessen und allgemein wichtigen Informationen. Was soll ich mit Newsfeeds über den neuesten Rockschnitt, neue Trock-Kompositionen oder das Comeback von Sepia bei Fotographien?

      Automatisch geht meine Hand zu dem Comkanal, der seit über einem Jahr leer ist. Mehr als Stille finde ich hier nicht. Keine Sprachnachricht, keine Texte. Als hätte es ihn nie gegeben. Als hätte er mein Leben nicht mit einer Berührung und wenigen Worten verändert.

      Hektor von Towna.

      Und als mich die Stille schmerzt, frage ich mich, was er für mich ist. Was ich für ihn bin … oder war. Und was ich für ihn empfinde. Ob er Gefühle für mich hat und ab und zu an mich denkt? Er ist in jedem Schmerz, den ich mir selbst zufüge.

      Unvorsichtig zu sein ist einfach. Sich selbst so zu verletzen, dass eine Operation nötig wird, nicht. Doch unnötige Operationen werden nicht vorgenommen. Künstliche Prothesen bekommen nur die, die es nötig haben, deren Leben und Lebensweisen sonst eingeschränkt wären.

      Die Tür zu meinem Zimmer geht auf.

      Trainer erhebt sich von seinem Stuhl. Ich weiß, dass er nicht sitzen muss, dass sein künstlicher Körper rund um die Uhr stehen könnte, da er nicht müde wird. Mit einem Körper wie seinem, könnte ich für immer rennen, mich im Laufen verlieren und nie wieder an Grenzen stoßen.

      „Wie geht es dir, Karina?“, höre ich Avna leise fragen und zu meiner Überraschung tritt hinter ihr Noem vor. Er sieht wütend aus.

      „Warum bist du gekommen?“ Alle wissen, dass meine Frage nicht Avna gilt.

      „Um zu sehen, wie viel von dir noch übrig ist“, erwidert Noem kalt und doch sehe ich Schmerz in seinen Augen. Ich ignoriere ihn, wie ich schon so vieles ignoriert habe. Wie das System ignoriert, dass ich mir die Verletzungen selbst zufüge. Ich bin mir sicher, dass Trainer es weiß.

      Meine Eltern bekommen es nicht mit. Die Eingriffe sind schnell gemacht. Kunstfehler passieren nicht. Alles ist präzise und abgestimmt. Ein Medikbot nimmt den Eingriff vor. Die Heilung geht schnell, die Adaption der neuen Teile ist schneller. Zu sehen ist kaum etwas. Nur in meinem File sind die Änderungen nachzuvollziehen. Doch niemand schaut dort rein. Meine Eltern zu allerletzt. Mein Vater freut sich über die neuen Rekorde. Meine Mutter schreibt Artikel darüber.

      Ich bin ihr Highlight, seit Vater an seine Grenzen

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