Zwei Seelen der Tiombe van R.. Maxi Hill

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Zwei Seelen der Tiombe van R. - Maxi Hill Spreewald-Trilogie

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Augen. Wie oft hat sie aus Kinderaugen Tränen weggeküsst, wie oft hat sie ihre Hand auf eine kleine, heiße Stirn gelegt und geflüstert: Mama ist bei dir. Und jedes Mal war die Mama froh, diese Augenblicke erleben zu dürfen. Doch da sitzt nicht ihr Kind. Da sitzt ein fremdes Wesen, das sich nicht unter die Haut schauen lässt, das sich vor jedem und allem schützen möchte. Obwohl nach außen hin alles von ihr abzuprallen scheint, ist sie im Herzen sehr verletzlich.

      »Du bist wie die Reinkarnation einer Schildkröte«, sagt Rita leise und hat wohl nichts bedacht, außer ihrer eigenen Unfähigkeit, unter Tiombes Panzer zu gelangen.

      Ein Zucken geht durch Tiombe. Doch dann lacht sie laut, beinahe hysterisch laut. Es gibt keinen Zweifel, sie hat einen Grund, etwas zu überspielen. Damit erklärt sich am leichtesten Tiombes Phase an Überdrehtheit, die oberflächlich gesehen als lebenslustig gedeutet werden kann. Inzwischen weiß Rita, Tiombe würde wahrscheinlich bei jeder Anschuldigung lachend weinen, aber sie würde nie verraten, wie es in ihr drin aussieht.

      Lächelnd legt sie ihre Hand auf Tiombes Arm und lauscht ins Nichts. Sie genießt die Berührung, die nicht immer geeignet ist, Zugang zu einem Menschen zu finden. Tiombe atmete bleischwer.

      »Es fällt dir schwer, über dein Leben zu reden. Gilt das auch für deine Gefühle?« Sie legt jetzt Wert auf Vertraulichkeit, die sich langsam auf Tiombe zu übertragen scheint. Wahrscheinlich ist es quälender Zweifel, der das Blut durch die jungen Adern treibt. Für einen Moment regt sich nichts, kein Muskel, keine Wimper. Nur schwerer Atem strömt aus der jungen Brust. Nach vielen Zügen beginnt Tiombe wieder zu reden, ohne Scheu, ohne Selbstanklage, ohne Schamgefühl, als hätte ein Engel ihre Zunge gelockert.

      »Ich bin die Schmach meines Vaters. Nur darum bin ich hier, wo mich keiner kennt – wo ihn keiner kennt. Hier muss er sich nicht schämen für mich.«

      »Kein Vater schämt sich für sein Kind.«

      »Ich bin ein Bastard. Das Abbild der Frau, die ihn verlassen hat. Die ihrem Befehlshaber den Befehl verweigerte und die ihr Kind im Stich ließ. Ich weiß, Mutter hätte mich nie … Er war es … Er wollte es so.«

      Sie hält inne, aber Rita ermuntert sie nicht. Der nüchterne Raum taucht ab im Dunkel des Abends mit der Gewissheit auf einen hellen, klaren Morgen. Unbewusst streicht Ritas Hand über Tiombes Arm. Sie verharrt, wie die Hand einer Mutter an der Stirn ihres fiebernden Kindes. In Tiombes Augen sammelt sich der Glanz einer reinen Seele, ein Glanz, den sie Tiombes Unschuld zugestehen möchte. Das schöne Gesicht vor ihren Augen verschwimmt, bis sich die kindlich suchende Hand fest um Ritas krallt, der junge Kopf sich anschmiegt. Diese Umklammerung spendet ihr Trost. Liebe. Hoffnung. Zuneigung. Vertrauen?

      Wie konnte sie erwarten, dass dieser Abend etwas bringt, was sie nie wollte. Tiombe tut ihr leid. Was das Mädchen einst liebte, hatte man ihr genommen. Die Mutter. Man hat ihr den Menschen genommen, der sie zu lieben glaubte, was doch nur ein verdammter Irrtum war. Mit ihrer Mutter hat sie verloren, was sie ein Leben lang lieben wollte.

      Vielleicht trägt sie nun selbst dazu bei, die Harmonie ihres Lebens zu zerstören, weil sie dem Vater alle Schuld gibt. Sieht sie die Zeit gekommen, wo sie zurückschlagen möchte?

      »Herrgott. Du bist erwachsen und kannst deine eigenen Wege suchen. Wir haben keine Leibeigenschaft und wir schreiben nicht 1220, wir schreiben 2012!«

      Tiombes Kehlkopf zuckt. Sie schluckt ein paar Mal den salzigen Geschmack ihrer Tränen herunter, die sie nicht losgelassen hat. Dann verharrt sie reglos; Es ist jetzt unheimlich still. Nur ein seidenes Knicken löste sich von Zeit zu Zeit aus den blassen Tapeten, die die alten Wände verjüngen. Rita wartet geduldig, doch Tiombe rührt sich nicht mehr. Ihr Atem geht ruhiger als zuvor.

      Das Knistern der Tapete verliert sich und Rita hat den Wunsch, sich zurückzunehmen für diesen Tag. Zeit sich etwas zu überlegen. Genau betrachtet steckt hinter Tiombes Leben ein kleines Türchen zu einem ungewöhnlichen Schicksal, das es mal wieder zu erforschen und aufzuschreiben lohnt. Hassen wird sie sich für ihren eigennützigen Gedanken nicht. Die Neugier gehört zu ihr, zu ihrem Beruf wie zu ihrer Passion. Neugier ist der einzige Weg, Wunder aufzuspüren. Und heute muss man als Romanautor schon mit einem Wunder aufwarten, wenn man gelesen werden möchte.

      Impuls des Lebens

      Die Worte des Abends rücken am Morgen in ein besseres Licht. Zum ersten Mal gibt ihr jemand die Gewissheit, sie zu mögen, ohne familiären Hintergrund. Einfach so. Seit Langem hatte sie kein solches Gefühl mehr. Es beherrschte sie noch in der Nacht. Sie versuchte das Gefühl lange hinauszuzögern. In vollkommener Dunkelheit – und so sind alle Nächte hier in der Abgeschiedenheit – und allein im fremden Zimmer, war die Verzückung dann gestorben und sie hätte beinahe einen unverzeihlichen Fehler begangen. Sie war drauf und dran, nach dem Kästchen zu greifen, was sie seit Tagen zu vermeiden versucht, weil diese beiden Menschen ihr Denken und Fühlen verändern. Es war das nächtliche Geräusch in den unteren Räumen, das liebevolle Trösten, das leise Summen eines Kinderliedes, das sie vom Unweigerlichen abgehalten hat.

      Ihr Körper streckt sich, ihre Muskeln spannen sich für Sekunden und lockern sich wieder. Dann schreitet sie dem Morgen entgegen, dem ganz normalen Morgen vor einem verdammt nervigen Tag im tiefsten Spreewald.

      Vorsichtig öffnet sie die Küchentür und sieht es genau: Rita macht ein unglückliches Gesicht. Eine Spur zu euphorisch, wendet sie sich dem nett gedeckten Frühstückstisch zu.

      »Ich habe einen Mordshunger.«

      »Dann iss dich richtig satt. Wer weiß, wann wir die Zeit für die nächste Mahlzeit finden.«

      »Wohin geht es heute?«

      »Lübben«, sagt Rita und schiebt noch ein paar Sätze nach. Vor Jahren habe man die Ostflüchter in einer Serie bedacht, nun seien die Rückkehrer dran. Es gehe um eine junge Frau, die Tiombe zu interviewen habe.

      Rita stellt die warmen Brötchen in die Mitte des Tisches und legt einen kleinen Merkzettel dazu, der Tiombe helfen soll, das Interview klug aufzubauen. Dann ruft sie nach nebenan:

      »Der Kaffee ist fertig!«

      Bis Jens sich mit Timi zu ihnen gesellt, nimmt Rita das Gespräch wieder auf, als habe sie es nie unterbrochen. »Lübben ist die Paul-Gerhardt-Stadt.« Dabei erscheint das gewisse Lächeln in Ritas Gesicht, das Tiombe immer sieht, wenn Rita versucht, ihr diese triste Gegend schmackhaft zu machen. Es gehört zu den Dingen, die sie so hinnimmt, wie sie sind, aber dieses Mal durchfährt sie ein anderes Gefühl. Ein vertrautes. Was weiß Rita? Sie kommt ihr zuvor:

      »Paul Gerhardt? Gibt es mehrere davon?«

      »Was heißt das, mehrere?«

      Auf einmal glaubt Tiombe, nicht wirklich über das sprechen zu wollen, was ihr noch eben auf der Zunge brannte. Sie zieht ihre Schultern nach oben und schaut zu, wie Jens den Kleinen in sein Stühlchen hebt. Diese Ablenkung kommt ihr gerade recht, aber Rita lässt sie nicht zu.

      »Paul Gerhardt ist überall bekannt. In vielen Städten gibt es Kirchengemeinden, Gotteshäuser, Diakonien. Sogar Schulen tragen seinen Namen. Er war neben Martin Luther der bedeutendste deutsche Kirchenliederdichter. Gut möglich, dass du seinen Namen schon einmal gehört hast.«

      Warum sag’ ich es nicht. Es ist doch nichts dabei, denkt Tiombe. Aber zugleich weiß sie, wenn sie erst davon anfängt, wird sie auf etwas reduziert, was sie nicht will. Oder Rita würde - wie gestern Abend - erreichen, dass alles wie von selbst aus ihr heraussprudelt. Das darf es nicht noch einmal.

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