Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge. Benedict Dana
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Er ging auf die sich links an das Hochhaus anschließenden, weit verzweigten Nebengebäude zu, in denen die großen Hauptsäle sowie die verschiedensten Sitzungs- und Versammlungsräume untergebracht waren. Als er schließlich das UN-Besucherzentrum betrat, stieg sein Blick sofort in die hoch aufragende Empfangshalle auf, deren prägnante Architektur durch die drei weißen, rundlichen Galerien der oberen Stockwerke sowie eine flach ansteigende Freitreppe Assoziationen zu einer modernen Kunsthalle aufkommen ließ. Die moderne, jedoch bereits in die Jahre gekommene Halle drückte das aus, was in seiner Wahrnehmung für das gesamte Gebäudeensemble galt: Die Architektur reflektierte eine große, weltumspannende Idee, die im Lauf der Jahrzehnte etwas an Glanz verloren hatte, aber durch bestimmte Erneuerungsschübe immer wieder belebt worden war. Einer dieser Schübe war etwa die gründliche Sanierung des gesamten UN-Hauptquartiers seit dem Jahr 2008 gewesen und ein anderer der, wegen dem er an diesem Tag hergekommen war: Die Gründung der „United Nations Refugee Nation“ – kurz UN-RN - und die selbstständige Verwaltung ihrer Gebiete.
Ihm fiel sofort eine größere Personengruppe auf, die sich vor dem runden Tresen der Information versammelt hatte und aus ebenso vielen Frauen wie Männern bestand. Sie alle wirkten sehr verschieden, weshalb er sie auf den ersten Blick für eine bunt durchmischte, internationale Touristengruppe hielt. Erst als sich jemand aus ihr löste und auf ihn zukam, realisierte er, dass es die Gruppe war, der er von nun an selber angehörte. Sie schien äußerlich vom ersten Augenblick an genau das perfekt zu erfüllen, was eine der wesentlichen Grundforderungen Dr. Goldworthys gewesen war: Alle, die Teil der Arbeitsgruppe wurden und damit zeitweilig den Status eines UN-Geheimermittlers erhielten, arbeiteten wie Agenten „undercover“ und waren verpflichtet, ihre wahre Identität und Funktion verborgen zu halten.
Der junge Kerl, der sich ihm näherte und ihn durch seine moderne Brille schon von weitem intensiv musterte, trug einen UN-blauen Anzug und hatte einen ebenso blauen Dokumentenhalter mit einer Namensliste in der Hand. Er wurde von ihm mit einer nüchtern und seriös wirkenden Geschäftigkeit willkommen geheißen, die lediglich durch die deutlich erkennbare Neugier in seinen Blicken eine persönliche Note erhielt.
„Dr. Morris, nehme ich an. Es fehlt ja nur noch einer auf der Liste. Mein Name ist Peter Mayfield und ich bin heute Vormittag für Sie zuständig.“
Mo war als letzter deutlich verspätet erschienen, wodurch er sich schon gleich zu Anfang in die Sonderrolle manövrierte, die ihm meistens zufiel. Er folgte Mayfield zu der Gruppe, in der er genau 23 Leute zählte. Als er es sich nicht nehmen ließ, jedem einzelnen seiner neuen „Kolleginnen und Kollegen“ persönlich zu begrüßen, vermied er es instinktiv sich mit seinem Namen vorzustellen. „Dr. Morton Morris“ existierte offiziell schon jetzt nicht mehr, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, welchen Decknamen er für die geheime Auslandsoperation erhalten würde. Die ausgewählten Ermittler waren schätzungsweise zwischen 30 und 55 Jahre alt, und ihm fiel sofort auf, dass die meisten von ihnen nicht wie typische US-Amerikaner aussahen.
Mayfield hielt sich nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf und machte sich direkt daran, die Aufgabe zu erfüllen, die ihm von seinem Chef Goldsworthy aufgetragen worden war: Er sollte der Gruppe die wichtigsten Säle und Gebäudeteile zeigen und ihr etwas über die Geschichte der UN erzählen. Als sich der kleine Menschentross unter seiner Führung in Bewegung setzte, bildete Mo das Schlusslicht, bis sich nach einiger Zeit eine junge, arabisch aussehende Dame an seine Seite heftete. Er spürte genau, dass sie kein zufälliges Interesse an ihm hatte und aus irgendeinem bestimmten Grund seine Nähe suchte. Ihre schlanke, in einem modischen, weißen Kostüm steckende Figur verlieh ihr zusammen mit ihrem langen, schwarzen Haar eine außergewöhnlich attraktive Erscheinung und ihre vornehmen Gesichtszüge verrieten Bildung und Intelligenz. Die schöne Unbekannte machte keinen Hehl aus ihrem Namen und stellte sich ganz offen als Sofia Merizadi vor, wobei sie ihm noch ihre Visitenkarte unter seine Nase hielt: Sofia Merizadi, Abteilung für die Rechte und den Schutz der Frauen beim United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR). Er wog die Visitenkarte für einen Moment nachdenklich in seinen Händen und kam dann zu dem nicht sehr fern liegenden Schluss:
„Ich nehme an, Sie sind für die Rechte und den Schutz der Frauen in den Gebieten der UN-RN zuständig?“
„Das ist richtig, auch wenn damit mein gesamtes Aufgabenfeld noch nicht ganz exakt umrissen ist“, entgegnete Merizadi in einem akzentfreien Englisch, das darauf schließen ließ, dass sie in den USA aufgewachsen war.
„Dann umreißen Sie es bitte ein wenig genauer, damit ich mir etwas vorstellen kann. Ich bin, was die Aufgabenfelder der UN angeht, noch nicht gut informiert“, forderte er mit der charmanten und Vertrauen erweckenden Freundlichkeit, die ihn Fremden gegenüber sofort sympathisch wirken ließ. Es war eine Freundlichkeit, die einem besonderen psychologischen Einfühlungsvermögen entsprang und bei einer Frau wie Merizadi sofort auf fruchtbaren Boden fiel. Während sie einem breiten, hell erleuchteten Gang folgten, der mit großen grauen und weißen Fliesen im Schachbrettmuster ausgelegt war, erklärte sie:
„Wie Sie wahrscheinlich wissen, befindet sich das Hauptquartier des UNHCR in Genf. Meine Grundaufgabe besteht zusammen mit einer Reihe weiterer Kollegen und Kolleginnen darin, den Hochkommissar für Flüchtlinge hier in New York beim UN-Treuhandrat zu vertreten. Die Verantwortung für die UN-RN fällt beiden Organen zu – der Treuhandrat übernimmt den administrativen Teil, während der UNHCR als der humanitäre Betreuer der Flüchtlinge auftritt.
In meine Zuständigkeit fällt der gesamte Weg, den eine Frau – beziehungsweise auch ein Kind oder ein Mädchen - nimmt, und nicht nur ihr Aufenthalt in einem UN-RN-Gebiet. Wir in unserer Abteilung interessieren uns für das Leben der Frauen in ihren Heimatländern, die Gründe, warum sie zu Flüchtlingen werden, ihren Weg, der sie in ein anderes Land oder in eines unserer Gebiete führt, ihre Lebensbedingungen dort und alles, was danach sonst noch geschieht. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, der nichts von dem ausblenden will, was einer Frau, die sich in Not befindet, widerfahren kann. Wir arbeiten bewusst allen Tendenzen in der Gesellschaft entgegen, die versuchen etwas von dem unter den Teppich zu kehren, was Frauen im 21. Jahrhundert noch immer an Unrecht erdulden müssen.“
„An was für Dinge denken Sie speziell?“, fragte er, während die Gruppe mittlerweile eine leicht geschwungene, moderne Treppe hinaufstieg.
„Ich ziehe das gesamte Spektrum krimineller Energien und Handlungen in Betracht, die man überall auf der Welt finden kann. In unserem Bereich haben wir es mit Menschenhandel, sexueller Nötigung, Zwangsprostitution, Vergewaltigung, allen Formen von körperlicher Gewalt und Folter, Erpressung, Ausbeutung und seelischer Unterdrückung zu tun. Wir kümmern uns auch um so heikle Dinge wie etwa die rituelle Beschneidung von Frauen, die natürlich in den meisten Fällen gegen deren Willen vorgenommen wird.
Mich würde interessieren, welchem der beiden großen Lager Sie als Kriminologe zuzuzählen sind: Gehören Sie zu den Hardlinern, die ein maximales Strafmaß für den Täter fordern, oder verfolgen Sie eher den weichen Verständnisansatz, der die Gründe für