Miro. Christina Hupfer
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Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon in diesem engen Versteck kauerten. Sie duckte sich immer noch krampfhaft in die Mauerecke und drückte sich eng an den warmen Körper von Rumo. Das tröstliche Gefühl seiner Wärme ließ ganz langsam den parkähnlichen Friedhof weniger dunkel, die Angst weniger heftig, die Schatten weniger grausig, und das Rufen des Käuzchens nicht ganz so unheimlich wirken. Sie zog die belaubten Äste noch etwas dichter heran, ihre Füße noch enger an sich, und schlang den Arm um ihren Freund. Gemeinsam lauschten sie angespannt in die Nacht hinaus. Ein Rascheln in der Nähe des klobigen Grabsteins gegenüber ließ sie zusammenzucken, und nicht weit davon entfernt klatschte etwas laut auf den Boden. Bestimmt nur ein Tannenzapfen, beruhigte sie sich.
Da! Was war das? Nur ein Ast, der knackte? Hinter der Mauer brummte ein Auto vorbei. Stille.
Das Rasseln von Schlüsseln ließ sie erneut aufschrecken. Eine Tür fiel ins Schloss. Es klackte vernehmlich, und schwere Schritte entfernten sich. Weg von diesem düsteren Ort, der ihnen jedoch für den Moment Geborgenheit versprach. Eingesperrt, aber dafür auch von außen nicht zugänglich. Bis morgen früh um acht Uhr, hatte das Schild am Eingang versprochen.
Sie ließ eine gefühlte Ewigkeit verstreichen bevor sie es wagte, sich zu bewegen.
"Ich hol jetzt Wasser, mein Lieber. Ich denke, das ist das Wichtigste, was wir nun brauchen", flüsterte sie und strich Rumo beruhigend über das verletzte Bein. "Bleib du mal hier. Ich bin gleich wieder zurück."
Sie ahnte nur seinen zustimmenden Blick, erhob sich vorsichtig, ignorierte ihre schmerzenden Gelenke und all die wunden Stellen ihres Körpers und griff nach der Gießkanne. Wer immer auch dieses Grab pflegte, zwischen dessen mächtigem Gedenkstein und der Außenmauer, eingerahmt von dichtem Buschwerk, sie sich versteckt hatten; er hatte die Kanne hier deponiert. Also musste man die auch irgendwo mit frischem Wasser füllen können.
Nach allen Seiten sichernd schlich sie sich über die schmalen Wege, die der Mond durch den aufziehenden Oktobernebel nur spärlich beleuchtete, und huschte hinüber zu dem großen hellen Gebäude in der Mitte, auf dem die Schatten der uralten Bäume einen spukhaften Tanz aufführten. Hier wurden die leeren Hüllen von Menschen für ihrer letzte Reise aufgebahrt. Sie hatte keine Angst vor den Toten. Die konnten ihr nichts anhaben. Die Lebenden waren es, vor denen sie sich so entsetzlich fürchtete. Und vor dem Krach, der ihr Herz fast zum Stillstand brachte als sie über den Griff einer Schubkarre stolperte, und dabei deren Inhalt mit Getöse auf dem Plattenweg verteilte. Schreckensstarr wartete sie darauf, dass im nächsten Moment jemand schreiend über sie herfallen würde. Doch nur das weit entfernte Gebell mehrerer Hunde, das kein Ende nehmen wollte, übertönte das wieder einsetzende, panische Getrommel in ihrem Innern. Und das hysterische Bellen ganz in der Nähe. Hinter ihrem Rücken.
„Sch, sch“, rief sie nervös. „Ist ja gut.“ Sie rieb die schmerzende Stelle an ihrem Schienbein und schaute sich suchend um. Irgendwo musste hier doch ein Brunnen sein! Vielleicht da drüben, neben dem süßlich riechenden Komposthaufen? Hoch aufgetürmt lagen dort die ausgedienten Requisiten der zurückliegenden Verabschiedungen: alte Kränze, verwelkte Blumen, Gestecke, Grünzeug, abgeschnittene Äste, Zweige und erdige Wurzeln. Weitere Gießkannen standen in Reih und Glied auf einer Bank vor einer akkurat geschnittenen Hecke. Gartengeräte lehnten ordentlich nebeneinander in einem Gestell, und eine dunkle Gestalt stand regungslos daneben.
Entsetzt schnappte sie nach Luft. Aber es war nur eine vergessene Jacke, die schlaff über einem der Besen hing. Die Nachwirkung des Schreckens ließ sie haltlos zittern, doch die Hoffnung auf frisches Wasser trieb sie vorwärts. Wo war denn nur der Wasserhahn?
Da, an der Hauswand: der kleine schwarze Schatten über einer Art Hocker, das musste er sein! Und sofort war er wieder vergessen, denn die Aufschrift auf der Tür daneben entlockte ihr einen leisen Freudenschrei. Eine Toilette!
Verschlossen.
Das einfache Schloss war kein Hindernis für ein Mädchen, das mit den Jungen aus dem bulgarischen Dörfchen Panjagurtschik groß geworden war. Das hoch über dem Bach mit ihren langen dünnen Beinen über schwankende Baumstämme balancieren konnte und kreischend steile Sandsteinufer hinunter rutschte, anstatt brav bei den Nachbarmädchen Elisaveta, Livia und deren Puppen zu sitzen. Das bei den wildesten Spielen vorn mit dabei gewesen war, und mit ihren verschrammten Knien und zerrissenen Hosen ihre armen Eltern immer wieder zur Verzweiflung gebracht hatte. Nicht mal die wiederholte Drohung, man würde sie demnächst zu dem finsteren Onkel Stanislavs zum Arbeiten schicken, hatte langfristig gewirkt.
„So musst du ihn biegen, den Draht“, hatte sie die Stimme des zwei Jahre älteren Marek noch immer im Ohr. „Dann einführen und mit Gefühl drehen. Mit Gefühl!“
Das, was bei den diversen Streifzügen durch die Schuppen ihres Dorfes geklappt, und ihnen ab und zu eine dicke Wurst, ein Glas Kirschen oder sonstige Leckereien beschert hatte, funktionierte noch immer. Der Draht, den sie aus einem der Gestecke gezogen hatte, war fest genug, und gleich darauf stand sie in dem kleinen Raum und konnte ihr Glück kaum fassen. Mit der gefundenen Jacke verdeckte sie das kleine Fenster, fand einen Knopf, drückte ihn, und helles Licht flutete über ein sauberes Waschbecken und die Toilettenschüssel hinter einer weiteren Tür. Und es war warm.
„Weißt du was“, murmelte sie viel später, schläfrig an den Türrahmen gelehnt. „Es ist das erste Mal seit einem halben Jahr, dass ich mich wieder einigermaßen sauber fühle. Ja, ich weiß, dass ich dieses Etablissement hier arg unter Wasser gesetzt habe. Die werden sich morgen früh wundern wo das viele Toilettenpapier geblieben ist. So was tolles, weiches, saugfähiges. Fast zu schade, es so zu verschwenden. Bei uns zuhause nehmen wir nur geschnittenes Zeitungspapier.“
Ihre Gedanken liefen zurück. In das Dorf ihrer Kindheit. Zu ihrem Vater, groß, kräftig und immer fröhlich, der alles reparieren konnte. Zu dem jeder kam, den jeder mochte, und auf den jeder hörte.
Zu ihrer Mutter, drall und weich mit ihrem ganz besonderen Duft. Die dicken schwarzbraunen Haare zu einer Krone geflochten, nie ohne eine blütenweiße Schürze, mit einem großen Herzen und ansteckendem Lachen.
Sie dachte an ihren älteren Bruder Niklas, der sie schon mal versohlt hatte, und der seine Erziehungsversuche nun bei seinem eigenen kleinen Mädchen ausprobierte. Bei ihrer aufgeweckten herzigen Nichte Jani. Sie hatte sie alle schon so lange nicht mehr gesehen.
Sie vermisste auch die Oma von Joji mit ihrem drolligen deutschen Akzent.
„Hast was ausgefressen, Slavenka?“, fragte die, wenn sie sich mal wieder zu ihr geflüchtet hatte. „Lass hören.“
Und von ihr ließ sie sich sogar gerne mal ins Gewissen reden: „Miroslava, das war aber gar nicht gut. Hättˋ ja auch zu gern gesehen wie der alte Stinkstiefel in der vollen Waschschüssel vor seiner Stufe gelandet ist. Aber stell dir vor, er hätt` sich dabei was gebrochen. Hättest dann für ihn und seine mageren Viecher sorgen wollen?“ Sie kicherte. „Für die Viecher würd`s ja noch gehen!“
Es konnte durchaus vorkommen, dass die alte Frau über ihre Streiche lachen musste, und die, während sie beide von den selbst gemachten Bonbons naschten,