Miro. Christina Hupfer

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Miro - Christina Hupfer

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zur Familie. Seltsamerweise wollte sie damals nach dem Tod ihres Mannes nicht zurück nach Deutschland. Obwohl die dortige Verwandtschaft ihr gerne ein Plätzchen angeboten hätte. Auch nicht, nachdem ihr einziger Sohn nach Sofia gezogen war und sich nur noch selten in dieser Einöde blicken ließ. Sogar ihr Enkel war zu ihrem Kummer nur wenige Sommer lang zu Besuch gekommen.

      Und so brachte Baba Dora, die außer einem enormen Wissen über Pflanzen und Kräuter auch über einen Schatz buntester Kittelschürzen verfügte, über denen ihr kurz geschorener Kopf auf einem dürren Hals wackelte, eben nun den Kindern ihrer Freunde alles bei, was sie wusste.

      Zum Beispiel auch, wie man schmalen Grashalmen schrille Pfiffe entlockte.

      Baba Dora war auch die einzige, die über Onkel Stanislavs Bescheid wusste. Den fiktiven grässlichen Onkel, der, als sie kleine Kinder waren, für Strafandrohungen herhalten musste, und der ihren Eltern als Ausrede diente, wenn sie sich vor Papas aufdringlicher Schwester aus dem Staub machen wollten.

      Als sie etwas älter waren, hörte sie mit ihrem Bruder feixend zu wenn sich ihre Mutter am Telefon wand:

      „Wie schön, dass du uns besuchen willst. Du kannst leider, leider nicht lange bleiben, weil wir wegfahren müssen. Wir haben dem lästigen Onkel Stanislavs versprochen, ihm bei der Kartoffelernte, oder beim Hausputz, oder bei sonst irgend was Unangenehmem zu helfen. Aber wenn du willst, kannst du gerne mitkommen.“

      Um sich dann, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, strahlend umzudrehen:

      „Sie bleibt nur zwei Tage. Sie hat selbst ganz wichtige, unaufschiebbare Termine!“

      Miroslava hatte zum Entzücken der ganzen Familie sogar einmal eine Tasse getöpfert, auf der Stanislavs Name stand, und die nun einen Ehrenplatz auf dem Regal in der Küche einnahm. Sie erinnerte sich sehnsüchtig an lange helle Tage voller Gelächter, Spaß und dreckigen Füssen. An Marmeladenbrote, Kartoffelfeuer, Erntewagen, Tanz und Musik.

      Wann hatte das alles aufgehört? Wann fing das Leben an, in die verkehrte Richtung zu laufen? Ging es damals los, als sie von der Lehrerin ausgewählt wurde, die Schule in der Hauptstadt Sofia mit der Sportförderung zu besuchen? Bodenturnen, Ballet und Tanz. Es war so toll, alles war neu, und sie fühlte sich den Daheimgebliebenen unendlich überlegen. Wenn sie in den Ferien wieder heimkam dauerte es immer länger, bis die alte Vertrautheit wieder aufkam.

      Oder fing es erst an, als der Vater verunglückte und er seinen Beruf nicht mehr richtig ausüben konnte? Er war so unglücklich, weil sein Bein nicht heilen wollte. Dazu kam, dass ausgerechnet der reiche Tabakbauer, dessen Wagenrad ihm den Fuß zerschmettert hatte, nun auch die kleineren Arbeiten, die er im Sitzen hätte erledigen können, anderweitig vergab. Ihr Bruder Niklas war damals beim Militär und wollte Lehrer werden. Aber er hätte mit seinen zwei linken Händen sowieso nicht helfen können.

      Wahrscheinlich aber begann es, als sie die Schule abbrechen musste. Keiner verriet zwar, wer die lange gerüschte Unterhose der grässlichen Geschichtslehrerin ausgestopft an die Wäscheleine gehängt hatte. Aber wegen dieser Kleinigkeit wurde ihr ganzer Schlafsaal dazu verdonnert, ohne Essen und gnadenlos früh ins Bett zu gehen. Die Alte verstand echt keinen Spaß. Es war dann aber auch nicht gerade ihr intelligentester Schachzug gewesen, spät in der Nacht den ganzen Berg Pfannkuchen, der zum Abkühlen vor der Küchentür stand, zu stibitzen und an alle zu verteilen. Eine Petze gab es immer, und das „extra“ Schulgeld für den Direktor konnten ihre Eltern nun wirklich nicht aufbringen.

      Zurück im Dorf kam ihr alles so hinterwäldlerisch vor. So eng und einfältig. Sie half ihrem Vater in der Werkstatt, sie war immer schon die Geschicktere der Geschwister, aber die Gedanken an die große weite Welt da draußen, die sie magisch anzog, ließen sie nicht los. Sie war wütend auf die verkniffene Geschichtslehrerin. Wenn sie eine Schraube fest anziehen musste, drehte sie ihr in Gedanken den Hals um. Dachte sie beim Hämmern an die Fratze des öligen Direktors, drosch sie so auf die Sense ein, dass sie sich fast verformte. Und meist hätte sie am liebsten sich selbst geohrfeigt weil sie so dämlich gewesen war sich erwischen zu lassen.

      So langsam ging es ihrem Vater wieder besser. Einer nach dem anderen kamen die Kunden kleinlaut wieder zurück. Die meisten konnten zwar nur mit Naturalien bezahlen: Gemüse, Eier, Pilze. Ab und zu ein Kaninchen. Aber es ging wieder aufwärts. Und irgendwann ergatterte sie einen Ausbildungsplatz in einem Reisebüro in der nächsten größeren Stadt. Sie war überglücklich.

      Einige Monate waren bereits vergangen, und immer noch kam es ihr vor, als hätte sie sich gerade erst in ihrer neuen Wohngemeinschaft eingerichtet, angefangen sich in ihrer Stelle zurechtzufinden und den Trubel der Stadt aufzusaugen. Als ihr Vater eines Tages in der Tür stand, freute sie sich riesig darauf, ihm ihre Mitbewohnerin vorzustellen, ihm ihre Arbeitsstelle zu zeigen und ihn dann durch die Stadt zu führen. Sie sprudelte über vor Begeisterung. Erst als sie merkte, dass er immer einsilbiger wurde, spürte sie, wie bedrückt er war. Und wie schwer es ihm fiel, sein Anliegen vorzubringen.

      „Slavenka, deine Mutter ist schwer erkrankt. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Ich hab`s wirklich versucht. Aber alle Hausmittel versagen, und der Arzt, wenn er denn mal kommt, hat keine Ahnung, was ihr fehlt.“ Die Mutlosigkeit hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

      „Habt ihr Baba Dora gefragt? Wenn jemand sämtliche Heilkräuter kennt, dann doch sie“, hatte sie verzagt gefragt. Und noch während er deprimiert und den Tränen nahe den Kopf schüttelte, band sie resigniert ihre modisch geschnittenen halblangen Haare zusammen, packte die schicken Kleider und die hübschen unbequemen Schuhe wieder in den vor knapp einem Jahr mit so großer Hoffnung gekauften Koffer und fasste ihren Vater bei der Hand.

      Zuhause angekommen stopfte sie ihr Gepäck in den hintersten Winkel ihres Schranks und begrub all ihre Träume unter Bergen schmutziger Wäsche, Hektolitern stärkender Suppen und Kannen voll gesunden Tees. In den Nächten kämpfte sie gegen ihre Tränen, sah ihre Mutter immer schwächer, den Vater immer mutloser werden und schämte sich dafür, dass sie sich trotzdem aus der Umklammerung ihrer dankbaren Eltern fortsehnte. Ganz schlimm war es, wenn ihre Freunde, die es aus dem Dorf heraus geschafft hatten, zu Besuch kamen, sie bedauerten, und unter dem Aufheulen ihres neu erworbenen, stolz vorgeführten Fahrzeugs so schnell wie möglich wieder das Weite suchten.

      3

      Kurz nach Miroslavas zweiundzwanzigstem Geburtstag stolperte der alte Doktor über seine eigenen Füße. Er hatte die hochprozentige ‚Medizin‘, mit der er seinen Frust bekämpfte, überdosiert und musste für ein paar Wochen selbst das Bett hüten. Seine Vertretung, ein überarbeiteter junger Arzt, der noch nicht all seine Ideale verloren hatte, untersuchte die Mutter kopfschüttelnd und schickte sie zur Abklärung seines Verdachts ins Krankenhaus nach Plewen. Dort wurde eine fortgeschrittene Vergiftung durch irgendwelche körpereigenen Pilze festgestellt, und sie wurde unverzüglich dahingehend therapiert. Es war unglaublich, zu sehen wie die Mutter innerhalb kürzester Zeit wieder auflebte und sich straffte wie eine fast verdurstete Pflanze, deren Zellen sich wieder mit frischem Wasser vollsogen. Wie sie ihr Leben wieder in die Hand nahm und sich nun um ihre Tochter sorgte.

      „Slavenka“, jetzt musst du endlich raus. Wir haben dich viel zu lange hier festgehalten.“

      „Wo soll ich denn hin?“, fragte die verzagt. „Was soll ich überhaupt machen? Hab doch nichts gelernt. Die warten grade auf so ne alte Schachtel vom Land. Es gibt so viele hier, die keine Arbeit finden. Und von denen haben manche sogar noch eine gute Ausbildung. Vielleicht kann ich ja ins Ausland gehen wie Olga. Als Erntehelferin oder als Pflegekraft?“

      „Aber, aber. Ich kenne meine Tochter nicht mehr. Mit so was hast du doch keine Zukunft. Du kannst immer

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