Nest im Kopf. Beate Morgenstern
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Das Kindergartenhaus ist von außen zum Fürchten hässlich, ein großes graues Kastenhaus. Aber drinnen sind ein Haufen Kinder, ein Haufen Spielsachen und ein paar nette Tanten, von denen Anna eine besonders mag, weil sie immer lacht. In ihren schwarzen Lockendutthaaren sind schon ein paar silberne Fäden, und ihre Augen kriegen beim Lachen Strahlen ringsum wie die Sonne, die Anna malt. Am meisten freut sich Anna auf Paulchen Weinreich. Der hat auch braun-gelbe Sonnenstrahlaugen.
Eine Tante steht im Flur und wartet, bis alle Kinder gekommen sind. Sie hilft beim Ausziehen. Dann sucht Anna nach Paulchen. Haben sie sich gesehen, ist es gut. Sie können auch mal mit anderen Kindern spielen. Paulchen hat noch zwei Freunde. Der eine ist fast richtig Annas Freund, ein langer Junge, vor dem anderen hat sie ein bisschen Angst, weil er zu schön ist und etwas fremd, als käme er gar nicht aus Gottshut. Anna hat noch eine Freundin im Kindergarten. Aber meistens spielt sie mit ihr, wenn der Kindergarten aus ist. Sie wohnt im Nachbarhaus von Anna und ist die Tochter vom Friseur. Die Friseurfamilie sind nur Leute. Sie gehören nicht zum Bruderbund. Anna macht das nichts aus.
Jeden Tag außer im Winter und bei Regen gehen sie mit dem Kindergarten spazieren. Anna mag das Zuzweit-und-zwei-Spazierengehen, sich bei den Händen fassen und laut sein. Gleich vom Kindergarten aus laufen die Füße wie von selbst die kurze Allee an der Brüderwiese hinunter zum Ebersbach. Der rauscht gewaltig in der Tiefe. Man hört ihn schon von weitem. Und er stinkt wunderbar nach den Bleichteichen. Im Sommer dürfen sie an einer Stelle die Böschung hinunterklettern und mit den Füßen hinein. Dann saugen sich die Blutegel fest, und man muss aufpassen, dass man auf den glatten Felssteinen nicht ausrutscht. Wenn kein Sommer ist, schauen sie nur durch die Bäume hinunter und erlaben sich an seinem Rauschen und Stinken. Meistens gehen sie den Langsamen Tod hinauf wieder in den Ort und zeigen sich. Die Leute sollen nur sehen, wie viele Kinder sie sind. Oder sie stromern auf dem Berg herum, auf dem im Herbst die Bäume ihre Bucheckern herunterfallen lassen. Die knacken sie auf und essen sie. Anna tut es leid, dass sie nicht auch noch die Eicheln aufessen oder einfach wie ein Schwein mit dem Rüssel auf dem Boden entlangschnorcheln kann. Im Wald sammeln sie auch allerhand zum Basteln, die glatten Kastanien, Eicheln, Kienäpfel, Tannenzapfen. Die Tanten wissen, was man draus machen kann. Man braucht fast nur Streichhölzer, dann hat man eine ganze Tiergesellschaft zusammen, die mit den Kindern überwintert.
Nach dem Kindergarten holen Anna und Paulchen ihre Mütter von der Arbeit ab. Sie gehen zum Ebersbach hinunter, hören sein Rauschen und riechen sein Stinken, biegen ab und bleiben unter dem ersten riesigen Bogen des Viadukts stehen. Je länger sie stehen, um so winziger werden sie. Es schwindelt ihnen von der Höhe des Viadukts und kitzelt sie angenehm, so zusammenzuschrumpfen zu beinahe gar nichts. Sie warten auf einen Zug. Dann wird es donnern, dass man sich die Ohren zuhalten muss. Wenn ihnen das Warten zu lang dauert, beginnen sie, gegen den Viadukt zu rufen. Ha, wie hohl die Geisterstimmen des Viadukts antworten. Sie rufen noch mal und noch mal, die Geisterstimmen antworten wie aus einer großen Halle. Mehrere Male reizen sie den Viadukt. Aber dann rennen sie, von Angst gepackt davon, den Weg hinauf, an Felsen und einem dunklen Teich vorbei. Sie trotten die Landstraße entlang. Da hören sie: Die Sirene heult. Feierabend. Aus dem Fabriktor kommen viele Leute.
Es ist aufregend, immerfort zu gucken, bis sie unter den vielen Menschen plötzlich ihre Mütter sehen. Die kriegen ganz fröhliche Gesichter, und Anna und Paulchen sind stolz auf sich selbst und darauf, dass die Mütter arbeiten gehen, und auf das Sirenen-Heulen, auf die Fabrik und was nicht sonst alles. Die Fabrik heißt Erwerbshilfe. In der Erwerbshilfe arbeiten nur Frauen.
Es ist Herbst. Die Kinder gehen in den Kleiberwald. Auf einmal sehen sie: Ein Wunder ist geschehen. Ringsum hängen durchsichtige Perlen an den Blättern und Zweigen und funkeln. Anna hebt ein braun-rötliches Eichenblatt vom Waldboden auf und hält es in der Hand. Das Blatt schimmert und ist von winzigen Glasperlen überzogen. In der Mitte ist eine ganz große. Vorsichtig trägt sie das Blatt zur Tante. Die nickt und versteht, dass etwas ganz Wunderbares mit dem Wald geschehen ist. Langsam rollt die große Perle vom Blatt hinunter. Anna sieht zur Tante. Die nickt wieder. Also muss das so sein. Die Perlen müssen zu Tränen werden. Wirkliche Wunder dauern nur ganz kurz. Anna prägt sich genau ein, wie der Wald in der großen Verzauberung aussieht. Die Sonne kommt durch die Bäume auf die bunten perlenübersäten Blätter. Die anderen Kinder schlagen gegen die Zweige, sodass die Perlen herunterspringen, und schreien vor Übermut. Auch das merkt sich Anna, die Freude der anderen Kinder.
Am Sonntag scheint immer die Sonne. Deswegen heißt er Sonntag. Anna bekommt ihr weißes Kleidchen an. Es ist so leicht, dass der Wind es aufheben und in der Luft festhalten könnte. Jemand bindet die große rosa Schleife ihres Kinderhäubchens. Jetzt ist sie bestimmt das schönste kleine Mädchen von Gottshut. Das schönste kleine Mädchen von Gottshut läuft in den Kindergarten und hört mit den anderen Kindern dem Bruder mit den lieben Augen zu, der Jesusgeschichten erzählt. Nachher steht der Bruder neben dem Missionsneger. Der bunte Missionsneger nickt und bedankt sich für jeden Groschen einzeln. Dann gibt es noch eine Freude nach dem Kindergottesdienst: bunte Bildchen mit Jesusgeschichten, die man sammeln kann.
Vor der Dunkelheit fürchtet sich Anna. Die Eltern singen ihr Lieder, damit Gott seine weichen Flügel über sie breitet und sie vor Satans Schlingen beschützt.
In den Träumen kommt der Teufel doch:
Anna sitzt auf der hölzernen Brille des Toilettenbeckens. Auf einmal spürt sie, dass von innen Hände nach ihr greifen. Sie weiß, es sind die vom Teufel. Sie springt vom Becken und schaut in das dunkle kreisrunde Loch in der Mitte, das sonst mit einer Klappe verschlossen ist. Unten sitzt der Teufel, feurig rot, und noch tiefer ist das Flammenmeer der Hölle. Der Teufel lacht, klimmt die dicken Tonröhren herauf, und seine haarigen Hände sind nun schon über dem Beckenrand. Anna presst sich an die Wand. Ganz aus dem Loch raus kann der Teufel nicht. Er muss Anna überraschen und dann hinunterziehen. Aber Anna hat es meist schon im Gefühl, wenn er kommt, und springt rechtzeitig weg, ohne dass der Teufel sie anfassen kann.
Oft hat sie noch einen anderen Traum:
Sie geht auf dem schmalen Bürgersteig der Hauptstraße den Weg zum Kindergarten oder Bäcker. Wenn sie kurz vor der gefährlichen Kreuzung ist, taucht oben auf der Höhe des Berges plötzlich ein gewaltiger Laster auf und rast den Berg herunter. Nur wenige Schritte noch, und Anna befände sich in der kleinen Straße vom Kindergarten. Aber der Laster ist schneller als sie. An seiner Schnelligkeit merkt sie, dass es kein gewöhnlicher Laster ist, sondern der, der sie seit vielen Nächten totquetschen will. Erst drängt sich Anna ganz dicht an die Hauswand. Doch der Laster kann, was kein Auto sonst fertigbringt: Er überrollt einfach die Bordsteinkante. Seine runden Augen leuchten unheimlich, und sein Motor blubbert. Tuck, tuck-tuck-tuck. Tuck, tuck-tuck-tuck. Anna weiß, es hat keinen Sinn, Sich in einem Hausflur zu verstecken. Das Automonster käme ihr doch nach und hätte sie wie