Mutterschmerz. J.P. Conrad
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Natürlich war ich mit meinen neunundzwanzig Lenzen ein ehrgeiziger junger Bursche, aber das wollte ich nicht so herauskehren. Schließlich konnte man sich mit zu viel Engagement schnell unbeliebt machen. Entsprechende Erfahrungen hatte ich zur Genüge während meiner Schulzeit sammeln dürfen. Schon damals hatte ich den Hang dazu gehabt, mich für die schwächeren Mitschüler einzusetzen, notfalls auch körperlich. Das hatte mir erwartungsgemäß nicht nur Ehrungen eingebracht, sondern auch jede Menge blauer Flecke, eine gebrochene Nase und Schelte seitens des Lehrkörpers und meiner Eltern. Während der Ausbildung habe ich dann, dank eines gleichermaßen strengen wie gütigen Mentors, gelernt, weniger stürmisch vorzugehen.
Ich hatte auch einen Assistenten in Bad Homburg, der mich bei meiner Arbeit unterstützte. Er hieß Gerd Blume, war Kriminalobermeister, spindeldürr, zwei Jahre jünger und fast einen Kopf größer als ich. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Wir verstanden uns von Anfang an prächtig. Ich bewunderte seinen Scharfsinn und seine schnelle Auffassungsgabe. Allenfalls hätte ihn mir ein wenig lockerer gewünscht. Während ich beispielsweise Jeanshosen und Karohemden bevorzugte - vielleicht das einzige Überbleibsel aus meiner rebellischen Vergangenheit - trug er stets Anzug und Krawatte. Aber er würde mit der Zeit und in meiner Gegenwart schon noch etwas auftauen, da war ich recht zuversichtlich.
Ich weiß noch genau, dass es ein Mittwoch war, als alles anfing, gegen acht Uhr morgens. Das Telefon in unserem kleinen Büro klingelte Sturm, als ich gerade das heiße Wasser aus dem pfeifenden Kessel in den Kaffeefilter schüttete. Ich ernährte mich damals praktisch nur von Kaffee, Zigaretten und dem, was man heute als Fast Food bezeichnet; abgesehen von einem ausgedehnten Frühstück in der Pension, auf das meine Wirtin bestand.
Hinter mir hörte ich, wie Gerd den Hörer abnahm. »Mordkommission, Kriminalobermeister Blume«, meldete er sich überkorrekt. Es folgte ein Gemurmel, das zu leise war, um es zu verstehen.
Gerd sagte, merklich überrascht: »Oh, verstanden. Wir sind unterwegs« und legte wieder auf.
Ich ahnte, dass ich meinen Kaffee nun nicht mehr bekommen würde.
»Herr Kampmann, wir müssen nach Rod am Berg«, verkündete er auch sogleich und erhob sich aufgeregt von seinem Stuhl, als hätte ihm etwas in den Hintern gebissen.
»Was ist los?«
»Das waren die Kollegen aus Usingen. Man hat im Wald die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden.«
Mir war in diesem Moment nicht klar, ob Blumes Anspannung daher rührte, dass es einen Mord gegeben haben könnte oder der Tatsache, dass ein Kind das Opfer war. Als Vater reagierte man sicher sensibler auf so etwas. Zudem fehlte ihm die Großstadterfahrung, wie ich sie hatte, bei der man so ziemlich alles Denkbare und Undenkbare schon einmal erlebt hat.
»Rufen Sie alle zusammen! Wir treffen uns dort!«, sagte ich, stellte den Wasserkessel zurück auf die kleine Herdplatte und schaltete sie aus.
»Die Spurensicherung ist bereits verständigt worden.«
Ich nickte verstehend und wir liefen beide zur Garderobe. »Wo ist Rod am Berg?«, fragte ich, während ich meine hellbraune Wildlederjacke, ob des zu erwartenden, kühlen Herbstwetters, bis zum Hals zuknöpfte.
»Das liegt etwa fünfzehn Kilometer von hier. Ein kleines Kaff. Ich glaube, nicht mehr als dreihundert Einwohner.«
Gerd kannte sich sehr gut im Taunus und auch in der Wetterau aus; er hatte viele Verwandte, die praktisch über ganz Hessen verteilt waren und die von ihm und seiner Familie regelmäßig besucht wurden. Ein reiner Albtraum für meinen Geschmack. Zumindest aber brauchten wir so keinen Straßenatlas zu bemühen.
Blume fuhr uns in unserem Dienstwagen, einem Opel Kadett A, zielsicher Richtung Rod am Berg. Er hatte, entgegen seinem sonstigen Gebaren, einen recht ruppigen Fahrstil, wie ich inzwischen hatte erfahren dürfen. Zudem war er meistens auch zu schnell unterwegs. Aber ich beschwerte mich nicht; insbesondere nicht heute, denn ich wollte zügig zum Tatort gelangen. Es kribbelte mir in den Extremitäten, bei dem Gedanken an meinen ersten, eigenen Fall in meiner neuen Position. Nichts Abgestandenes, Aufgewärmtes; Ingrid Troglauer hin oder her.
»Was haben die gesagt?«, fragte ich, während ich mir eine Zigarette anzündete.
Gerd zuckte mit den Schultern. »Ein Wanderer hätte ein totes Mädchen gefunden. Und es sei wohl kein Unfall gewesen. Das Gesicht soll ziemlich übel zugerichtet sein.«
»Hm.« Der Anblick eines blutigen Kindergesichts formte sich vor meinem geistigen Auge, während ich den blauen Dunst der HB in Richtung Wagendach blies. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass meine Fantasie nicht ausreichte, um annähernd den Anblick dieses Mädchens zu beschreiben.
Während Blume den Wagen über die wenig befahrene Straße lenkte, versuchte er sich in leichter Konversation. »Was sagen Sie denn dazu, dass Adenauer zurücktritt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Dazu habe ich keine Meinung.« Tatsächlich interessierte ich mich nicht wirklich für Politik, hatte ich auch noch nie. Sie hatte noch keine zwanzig Jahre zuvor Deutschland in Schutt und Asche gelegt und sie mir dadurch auch nicht wirklich näher gebracht. »Es wird schon ein guter Mann nachrücken«, sagte ich nur gleichgültig.
»Dieser Erhard, den die FDP seit zwei Jahren anpreist wie sauer Bier, muss mich erst noch überzeugen.«
»Wer?«
Blume lachte amüsiert. »Sie lesen doch jedem Morgen Zeitung und kennen sich so wenig aus?«
»Ich lese immer nur die lokalen Nachrichten, das Feuilleton und den Sport«, erklärte ich ihm. Und das stimmte. Die Zeilen der Taunus Zeitung, früher der Rundschau, waren nur dann für mich interessant, wenn es um Dinge ging, die unmittelbar um mich herum passierten, seien sie für meine Arbeit von Interesse oder für meinen kulturellen Anspruch. Letzterer bestand für mich zu dieser Zeit überwiegend aus Beat-Musik und Kinobesuchen. Zudem las ich noch die Fußballergebnisse. Mehr brauchte ich nicht und ich hatte auch nie das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen.
Nach etwa zwanzig Minuten hatten wir zwei kleine Ortschaften durchfahren und die Straße ging bergauf. Ich las den Namen auf der gelben Ortstafel, die schnell an uns vorbei huschte: Rod am Berg. Links standen ein paar Häuser beisammen, welche das Dorf bildeten; rechts war alles grün von Feldern und Bäumen, soweit das Auge reichte. Die Szenerie wirkte insgesamt recht blass, was wohl an der fehlenden Sonne lag; dicke Wolken hielten ihre Strahlen weitestgehend fern.
»Wissen Sie genau, wohin wir müssen?«, fragte ich und hielt Ausschau.
»Ungefähr«, sagte Blume und nickte kurz darauf voraus. »Ich schätze, da sind wir richtig!«
Er hatte Recht: Zwei Dienstwagen, ein Bulli und ein Käfer, standen an einem Abzweig, der rechter Hand in Richtung Wald führte. Unmittelbar an der Straße kickten drei Halbstarke einen Fußball hin und her. Blume lenkte unseren Wagen um sie herum auf den unebenen Weg und hielt hinter dem Käfer. Wir stiegen aus und ich setzte meinen ersten Schritt direkt in eine kleine Pfütze.
»So eine Scheiße!«, fluchte ich leise. Ich trug die braunen Lederschuhe, die ich mir erst vor ein paar Tagen, anlässlich meines Amtsantritts, gekauft hatte. »Es wird wohl bald noch ein weiteres Unglück geben«, dachte ich bei mir im Hinblick auf die Reaktion meiner Wirtin, die sie würde säubern dürfen. Ich schaute