Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten. Beate Morgenstern

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Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten - Beate Morgenstern

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wäre es kein bedeutungsvoller Vorgang, hatte er heute ganz nebenbei den Schlüssel von der Konsole genommen, ihn in das Zeigerblatt der Uhr gesteckt und sie aufgezogen. Wahrscheinlich, weil ein schöner Morgen geworden war, anders als vorausgesagt und er bei seinem Aufstehen in der Dunkelheit befürchtet hatte. Früher hatte er an Wochenenden ausgeschlafen, bis neun, bis zehn Uhr. Jetzt sein Schlaf war nicht mehr gut. Wovon sollte er auch müde werden? Erst recht aber brauchte der Tag Struktur. Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend. Diese Einteilung machte den Tag nicht zu einem einzigen langen Stück, durch das man nie hindurch käme. Halb acht stand er auf. So war die Regel, an die er sich auch im Winter hielt. Obwohl er an Beklemmungen litt, bis es endlich hell wurde. Dafür erlebte er das Anbrechen des Morgens und die Überraschung, wenn sich allgemeine Wettervoraussagen nicht erfüllten, der Himmel nicht das eintönige helle Grau annahm, das ihm vor allem verhasst war. Regen ihm lieb. Regentage ihm immer lieb. Die hüllten ihn ein, umgaben ihn wie einen Mantel. Auch einen gleichmäßig düsteren Novemberhimmel mochte er, aus dem es leise nieselte. Das Grau heute aufgelockert, dunkle Wolken, die schnell zogen, helle kleine, die sich kaum fortbewegten, große verwischte Flächen. (Er hatte diese Aussicht auf den Himmel. Das hatte ihm der zweite Umzug gebracht.) Noch hatte er gar nicht nach draußen geschaut, bloß das Licht gefühlt, genau richtig für ihn dosiert, war sich wieder ein bisschen mehr gut gewesen. Das hatte ihn sicher zum Uhrschlüssel greifen lassen. Jetzt erst betrachtete er den Himmel. Bis er sich zu nächstem Tun aufraffen konnte, lag er nach dem Frühstück auf dem Kanapee. Er sah, wie sich die Sonne ihren Weg durch die Feuchtigkeitsmassen bahnte: Bleich war sie, lächerlich kreisrund, geradezu wie mit einem Zirkel gezogen. So war sie ihm recht. Seine Beklemmung hatte einer Melancholie Platz gemacht, in der er sich wohlfühlte, die sich an den seltenen guten Tagen bis ins Heitere steigern konnte. (Wie lange war es her, dass er tatsächlich einen ganzen langen Tag gelassen gewesen war und sich selbst wie von ferner Warte mit ein wenig gutmütiger Häme betrachtete: Soweit bist du gekommen, und das Übrige wirst du auch noch hinter dich bringen.) Er schaute in den Himmel und wieder auf die Uhr. Sie das Lebendigste, Schönste in seiner Wohnung, die eine Mischung war zwischen Altem und Neuem, alles aufeinander abgestimmt. Nicht den kleinsten Mangel konnte er ertragen, weshalb er bei der Einrichtung Schulden gemacht hatte, von denen er wohl nie herunterkäme, was ihn weniger bedrängte, als wenn er etwas Unvollkommenes hätte anschauen müssen. Der halbhohe Herrenschrank mit seinen Säulchen und Kapitälchen, die Innenflächen marmoriert, die Konsole darüber und darauf die Uhr hatte er bewusst als Blickfang gewählt. Er konnte schauen, wie die Zeit verging. Die Möbel wohl aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. So musste man jetzt schon sagen, obwohl das neue Jahrhundert gerade erst ins zweite Jahr ging. Als Junge hatte er sich nie vorstellen können, dass er diesen Zeitsprung ins nächste Jahrhundert/Jahrtausend mitmachen würde. Wenn es auch bloß ein angenommener war. Andere, weniger bestimmende Kulturen lebten in ganz anderen Zeiten. Die Möbel würden ihn überdauern, die Uhr auf jeden Fall einen Liebhaber finden. Es tat ihm gut, an das zu denken, was Bestand hätte, wäre er nicht mehr. Die Uhr würde fort und fort ticken. Aber diesen tröstlichen Klang wie für ihn hätte sie für einen nächsten Besitzer wohl kaum noch. Andere Menschen besorgte es eher, dass Zeit verging. Er würde gern von dem, was ihm an Jahren blieb, abgeben. Sofort alle Tage und Jahre an jemanden, der noch einen Sinn in seinem Leben sah, vielleicht tatsächlich Sinnvolles tat in dieser Zeit, die nicht mehr die seine war, in der er aussortiert war, von der er aber nicht nur deshalb keine gute Meinung hatte. Bitter notierte er: Je größer der Unsinn, je größer die Unvernunft, umso mehr hatte sie Aussicht auf Erfolg. Wahnwitziges ereignete sich. Wo er doch allen Ernstes an den Sieg der Vernunft geglaubt hatte. In dem vergangenen System, als ihm noch deuchte, lediglich Reformen ständen aus, die Einführung des Zweifels als Kategorie würde die Gesellschaft in die richtigen Bahnen lenken.

      Nicht einmal als Organspender kam er in Frage. Seine Körperfunktionen unzuverlässig. Der Wurm war in ihm. Der Wurm!, wiederholte er leise, genussvoll vor sich hin sprechend. Ein leichtes Grinsen überzog sein Gesicht. Seine dicken schräg liegenden Augenlider verengten sich. Sein breiter Mund zog sich leicht in die Höhe. Schmal seine Nase, die am Ende wie zu einem Tropfen auslief. Kräftig, männlich sein gespaltenes Kinn. Sein Gesicht von einem beinahe vollkommenen Oval, was nun durch völlig fehlenden Haarschmuck auffiel. Was noch kümmerlich spross, rasierte er sich ab. Er selbst bezeichnete sich als hässlich, was aber seiner geringen Selbstachtung geschuldet war. Seitdem er seine Arbeit und dann seine Liebe verloren hatte, war er sich nicht gut, wenn er sich auch nicht so sehr hasste, dass er auf Annehmlichkeiten verzichtete, auf eben diese in aller Bescheidenheit bis zum letzten Winkel vollkommen ausgestattete Wohnung, auf schmackhafte Mahlzeiten, wobei er nie so ganz genau im Voraus wusste, ob sie ihm bekommen würden. (Die bekömmlichsten waren ihm die von Nina, der Lebensgefährtin seines Freundes. Sie bevorzugte die südländische Küche. Keiner begriff, warum er sich ausgerechnet mit Nina so gut verstand. Norbert warf ihm sogar vor, er würde immer auf ihrer Seite stehen.) Kaffee in Maßen, Trinkschokolade, Kuchen. Er buk auch selbst, bekam er einmal einen Gast. Er suchte zu genießen, so gut er es vermochte. In den letzten Tagen allerdings war ihm die geringste Maßnahme zum Erhalt seines seelischen Gleichgewichts zuwider gewesen, als könne er so sein Ende beschleunigen. Heute nun schien wieder ein Anfang gemacht in dieses Stück Leben, das er vor sich hatte. Sein Blick wanderte zum Foto einer nicht mehr ganz jungen Frau in altmodischer dunkler Kleidung. Hübsch war sie mit ihren dunklen locker aufgesteckten Locken, dunkeläugig und die Züge sehr weich. Diese Frau, seine Großmutter, hatte ihn geliebt, und er sie. Er nahm sie, wie sie auf dem Bild war: als junge Frau, und drängte beiseite, wie kläglich ihre letzten Jahre gewesen waren und wie erbärmlich ihr Tod. Noch hatte sie ihr Leben nicht an das ihrer bösen, wenn auch schönen Tochter gehängt, diese seine Mutter, über die er keinen einzigen guten Gedanken hatte.

      Die Sonne drang nun ganz durch die Wolken, gleißte unangenehm, traf bald genau seine Augen. Eine Weile lag er, unfähig, Abhilfe zu schaffen. Jede Aktion kostete Mühe. Doch das Licht stach so sehr, dass es ihn dann doch von der Liege trieb. Er zog das Sonnenrollo herunter. Nun herrschte eine Dämmerung im Zimmer, die ihn aufatmen ließ. Der schöne Morgen durfte noch fortdauern. Es schien ihm, er brauchte nur auf seinem Kanapee zu liegen und Zeit verrinnen zu lassen. Tag um Tag um Tag, ein Jahr und noch eines und noch eines.

      Die Zeiger rückten vor. Wie sie zehn Uhr anzeigten, wusste er nicht, warum er nicht heute wie jeden Samstag um diese Zeit weit hinausfahren sollte aus der großen Stadt in den Norden.

      Er sah sich noch einmal in der Wohnung um, räumte noch Kleinigkeiten beiseite, damit er die Wohnung so vorfand, wie er sie vorzufinden wünschte: in bester Ordnung. Es war ihm nicht bewusst, dass er damit jede Spur seiner Anwesenheit tilgte.

      Mit dem kleinen Auto, das er sich nach der Wende geleistet hatte und dessen Reparaturen ihn eines Tages ganz ruinieren würden, war er nach fünfzwanzig Minuten aus der Stadt und auf der Autobahn, die bald mitten durch Wälder führte.

      Hin und wieder nahm er Norbert auf diesen Fahrten mit. Der hatte kein Auto und würde niemals eines haben. Was ihn Ende vierzig betroffen hatte, war Norbert schon mit im Alter von dreißig Jahren zugestoßen, wie so vielen, die jenes Land bewohnt hatten, das es jetzt nicht mehr gab. Er war arbeitslos geworden. Nach allen Anläufen, irgendwo doch noch unterzukommen, schien es zwölf Jahre später vollkommen aussichtslos, dass er je eine Anstellung erhalten würde. Obwohl man Norbert, anders als ihm, nicht einmal Systemnähe vorwerfen konnte. (Wie ungerecht der Vorwurf auch war. Er war nie Parteigänger gewesen.) Nina und Norbert hatten sich um denselben Posten beworben. Nina hatte man genommen. Nina, die nicht jünger war und keine Berufserfahrung besaß, aber eine andere Biografie, eben eine westliche. Das ist doch merkwürdig, hatte Norbert gemeint. Oder? Das kann einem doch zu denken geben. Es gab zu denken. Er hatte sein Leben gelebt, nicht gerade erfolgreich oder glücklich, was machte es. Aber dass man dem Freund keine Chance einräumte, kränkte ihn mehr, es erbitterte ihn. Es änderte auch nichts, dass Norbert nun mit Nina zusammen war. Norbert hatte ja schon vorher Beziehungen zu Frauen gehabt. Er war Gott sei Dank über das Schlimmste hinweg. Klinik, Gruppe lagen hinter ihm. Er hatte abgeschlossen. Norbert war seine große Liebe gewesen. Die hatte so und so viele Jahre gedauert. Gutes stand ihm sicher nicht mehr bevor.

      Norbert wusste, dass er samstags in den

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