Das Verschwundene Tal. Dietmar Preuß

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Das Verschwundene Tal - Dietmar Preuß

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      „Auf den edelmütigen und spendablen Wirt!“, rief er und leerte den Humpen in einem Zug. Das Bier war kühl, das Fass kam wohl aus einem Eiskeller, und wie immer schienen die ersten Schlucke die köstlichste Labsal zu sein, die nach einem durchwanderten Tag denkbar ist. Und da der Wirt schon einen zweiten Krug bereithielt, musste er sich den Trunk nicht einmal aufsparen. Die Gäste waren inzwischen in so ausgelassener Stimmung, dass sie sogar applaudierten, als er den leeren Krug mit einem inbrünstigem Ahhhh! absetzte.

      „Der zweite Krug für eine Geschichte!“, rief der Wirt, und augenblicklich verstummte das Gelächter und Gejohle im Schankraum. Eine gespannte Stille machte sich breit, denn Geschichten, von weitgereisten Skalden erzählt, waren eine willkommene Unterhaltung in einem verschlafenen Städtchen wie Shuyuk. Ein Krug Bier für eine Geschichte ist etwas unter Wert, dachte Wulfiard, aber wo es nun so gut begonnen hatte, wollte er nicht zurückstecken. Und genau genommen waren es ja sogar zwei Krüge, die er dafür erhielt. „Eine Geschichte, jawohl, eine kurze, denn ich bin vom langen Weg sehr hungrig. Mein Name ist Wulfiard von Gandra, vor siebzehn Monaten bin ich in höchster Gefahr über den Unsteten Pfad aus den Greiflanden gekommen. Nicht nur Geschichten erzähle ich, für jeden von euch finde ich einen passenden Vers. Der erste von euch, der sich meldet, hat Glück, denn nicht mehr als einen gefüllten Teller kostet ihn ein Pergament“, er klopfte auf seine Tasche, „auf dem ich den Vers verewigen werde.“ Wulfiard hatte sich einen freien Stuhl herangezogen, den er mit dem Rücken zur Theke aufstellte. Er setzte sich auf die Lehne und war so von jedermann zu sehen. „Doch bevor ich mit der Geschichte von dem Flickschuster beginne, der dem Gehörnten ein Schnippchen schlug, solltet ihr eure Becher füllen lassen!“ Er warf dem Wirt einen kurzen Blick zu, um ihm zu zeigen, dass er sein Publikum im Griff hatte.

      Als die Arme der Gäste mit Bechern, Krügen und Pokalen in die Höhe schossen, sah der auch sehr zufrieden aus. „Los, los, los, Sello! Das ist die Gelegenheit zum Geldverdienen. Verteile geschwind die Getränke!“, scheuchte er seinen Schankgehilfen, einen stumpfsinnigen, pickeligen Jungen, der wohl mit ihm verwandt war. Selbst dieser tumbe Gehilfe erkannte, dass dies ein besonderer Abend werden würde, und so sputete er sich, die Gäste zu bedienen.

      „… und als der Gehörnte die vielen zerschlissenen Schuhe sah, die der Flickschuster bei sich trug, dachte er, dass der sie selbst abgelaufen habe. Er wurde zornig, weil es demnach noch tausend Meilen bis zu dem Tengristempel sein mussten, den er zerstören wollte. Vor Wut ließ er die vier kleinen Steine in seiner Linken fallen. Aber nur für den Gehörnten waren sie klein, denn die Teile, die noch aus dem Boden schauten, waren immerhin so hoch wie ein Bergtroll. Der Gehörnte presste den großen Brocken in seiner rechten Faust vor Wut zusammen, bis er vollständig rund und glatt war. Dann ließ er auch ihn fallen und verschwand mit gewaltigen Schritten, so dass der Flickschuster ihn nach wenigen Augenblicken schon nicht mehr sah. Der Stein aber landete auf den vier kleineren und bietet dem Wanderer bis heute Schutz vor Regen und Schatten in der Mittagsglut. Ihr wisst, wo dieser Fünfstein steht und wo diese Geschichte sich zugetragen hat“, endete Wulfiard.

      Für die Dauer einiger Herzschläge herrschte Stille im Schankraum, bis die Gäste aus der Welt zurückgekehrt waren, in die sie entführt worden waren. Dass die Geschichte sich ganz in der Nähe zugetragen haben sollte, begeisterte sie umso mehr. Applaus brach aus und endete erst, als der Wirt einen neuen Humpen Bier für Wulfiard brachte. Die Gäste merkten, dass auch sie ausgetrunken hatten und hielten Krüge und Becher in die Höhe. Der Wirt und sein Schankgehilfe beeilten sich, den Wünschen nachzukommen.

      „Noch eine Geschichte!“

      „Erzähl weiter!“

      „Wirt, schenk ihm Dattelbrand ein, auf meine Kosten!“

      „Ein Gedicht aus deiner Heimat!“

      Solche und andere Rufe waren zu hören, aber Wulfiard schüttelte den Kopf. „Erst muss ich etwas essen. Wem ist ein Gedicht ein Stück Lammkeule wert?“

      Wulfiard hatte erwartet, dass die eben noch begeisterten Gäste vornehme Zurückhaltung zeigten, wenn es ums Bezahlen ging. Aber er wusste auch, dass er einen Mann aussuchen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken musste, um seine Kunst in Brot zu verwandeln. Wenn erst einer eine Münze springen ließ, würden sich auch die anderen nicht lumpen lassen. Er sah sich um und entschied sich für einen Mann mit einem gutmütigen Grinsen und einem mächtigen Bauch, der sich unter seiner Dschellabah wölbte. „Mein Freund, was ist dein Beruf?“

      „Ich bin Kesselflicker. Und ich wüsste nicht, was es über mich zu reimen gibt. Wenn du ein paar Verse findest, will ich dir gerne dein Essen bestellen“, antwortete der Mann.

      Wulfiard musste nicht lange überlegen. Ein paar Zeilen, die sich auf jeden Mann ummünzen ließen, hatte er immer parat:

      „Das Kesselflicken ist wahrlich Kunst,

      es füllt nicht die Börse, aber den Wanst.

      Heut´ sitzt der Flicker im gastlichen Haus

      und sieht für euch alle ganz harmlos aus.

      Doch morgen wird er bei euren Weibern klopfen,

      um nicht nur die Löcher der Kessel zu stopfen!“

      Die Gäste, die schon reichlich getrunken hatten, brachen in tosendes Gelächter aus. Wulfiard hatte den Dicken richtig eingeschätzt, denn er nahm ihm die Zote nicht übel. „Wirt, bring diesem blonden Halunken zu essen! Und du, Haimamud, spitz die Feder und schreib mir diesen Vers auf!“

      Während Wulfiard schrieb und nebenbei an einer zarten und gut gewürzten Lammkeule kaute, kehrte Ruhe im Schankraum ein. Zwar schauten einzelne Gäste immer wieder zu ihm herüber, aber er ließ sich nicht beim Essen stören.

      Schon während er die Geschichte vom Flickschuster erzählt hatte, waren neue Gäste durch die Tür gekommen und mit Schscht! und Pssst! begrüßt worden. Die Neuankömmlinge hatten sich möglichst still ihre Plätze gesucht. Vielleicht hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass ein Haimamud im Betrunkenen Kamel seine Kunst zum Besten gab.

      Einer der Gäste, die während Wulfiards Vortrag hereingekommen waren, hatte sich einen Platz in einer dunklen Nische gesucht. Der Mann war überaus kräftig und hätte sogar gegen die mächtigsten Krieger aus Wulfiards Sippe bestehen können. Er schien etwas zu verbergen, denn die Augen in dem starren Gesicht wanderten unter halb gesenkten Lidern unablässig hin und her. In das Gesicht waren, soweit das durch den dichten Bart erkennbar war, zahlreiche schwarze Spuren eingebrannt, die nur von jahrelanger Arbeit an Esse und Amboss herrühren konnten. Die Hände aber waren zu sauber, als dass er vor kurzem sein Handwerk ausgeübt hätte.

      Wulfiard, zu dessen Kunst auch gehörte, kleinste Regungen in den Gesichtern seiner Zuhörer zu beobachten, war nicht entgangen, dass der Schmied zusammenzuckte, als ein hagerer Mann mit vernarbten Wangen, schmutzigrotem Turban und einem goldverzierten Natterzahn in der Schärpe eintrat. Unbändiger Hass glühte in den Augen des Schmieds auf, und Wulfiard glaubte, der Mann würde sich jeden Moment auf den Neuankömmling stürzen, während er davon erzählte, wie der Flickschuster den Gehörnten hereinlegte. Dann riss der Kerl sich zusammen und zog sich weiter in den Schatten seiner Nische zurück, sodass das Narbengesicht ihn nicht sehen konnte.

      Der Hagere hatte sich einen Platz an einem Fenster gesucht, und um ihn herum war ein Halbkreis leerer Stühle und Bänke entstanden. Die Gäste vermieden es, in seine Richtung zu sehen, und Sello, der pickelige Schankgehilfe, weigerte sich, die Bestellung des unheimlichen Mannes aufzunehmen. Der Wirt musste selbst hingehen, und nach einer knappen Antwort flüsterte der Mann eine Frage, wobei er mit einem Kopfnicken zu Wulfiard hinüber deutete.

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