Berlin, Bülowstraße 80 a. Gabriele Beyerlein

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Berlin, Bülowstraße 80 a - Gabriele Beyerlein

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man diesen Satz seines Briefes als ernste Reue werten? Oder war er nicht eher eine Art von zynischer Rechtfertigung seines Verbrechens? Sophies Herz schlug dumpf. Wie dachte sie hier über ihren Vater! Welche Worte gebrauchte sie für ihn! Er war doch ihr Vater. Und ganz gleich, was er getan hatte, er hatte sie geliebt, und sie hatte ihn geliebt, und sie liebte ihn doch noch immer!

      Durfte sie das überhaupt?

      Was hatte die Mutter ihr erspart all die Jahre, indem sie ihr nichts davon gesagt und auch noch dafür gesorgt hatte, dass sie es auch von anderer Seite nicht erfuhr! Was wäre ihr erspart geblieben, wenn sie nicht heimlich den Sekretär geöffnet und gegen den Willen der Mutter all diese Papiere gelesen hätte! Dann könnte sie noch immer dieses reine und strahlende Bild ihres Vaters in sich tragen, das Bild des Helden, des Ritters.

      Und doch. Und doch. Sie hatte sie wissen müssen, die Wahrheit. Und sie konnte es auch jetzt nicht bereuen, sich Zugang dazu verschafft zu haben, so unerträglich es auch war. Denn das Dunkle, das war ja auch da, wenn man es nicht wusste und nicht sehen wollte, und brach sich seine Bahn. Verfolgt hatte es sie, ohne dass sie geahnt hatte, was es war. Diese Erinnerung an den 6. März, die über sie gekommen war — sie bewies ja, dass sich die Wahrheit nicht totschweigen ließ, mochte die Mutter sich auch noch so sehr darum bemühen.

      Wenn es nur einen gäbe, mit dem man darüber reden könnte. Aber es ging nicht. Es war nicht möglich. Und die Einzige, die es könnte, lag hier mit ihrem unbeugsamen Stolz und diesem Schweigen um den Mund.

      Wie hatte die Mutter das nur alles ertragen? Geboren und aufgewachsen in einem Schloss. Ein glanzvolles Haus geführt als Baronin von Zietowitz. Und dann das. Zwei Zimmer. Die alte Frieda. Das heimliche Sticken. Jeden Pfennig umdrehen. Und diese schreckliche Geschichte mit dem Vater.

      Was für ein Spießrutenlauf musste das damals für die Mutter gewesen sein, als all diese Sachen über den Vater in der Zeitung gestanden hatten. Man hätte sich gewünscht, Herr Hansen hätte den Major angezeigt und dieser wäre zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden.

      Und das einer Geborenen von Rieskow. Verheiratet mit einem, der ein Verbrechen begangen hatte und sich mit Absicht im Duell hatte erschießen lassen, damit er nicht ins Gefängnis musste.

      Und das sollte ihr Vater sein, er, dessen Autorität für sie als Kind unangreifbar gewesen war? Wie hatte sie sich vor ihm gefürchtet, wenn sie zu ihm wegen eines kindlichen Vergehens zitiert worden war, weil sie genascht hatte oder gelogen! Gefürchtet nicht nur wegen des Rohrstocks, viel mehr noch, weil es ihr vorgekommen war, gegen Gott selbst verstoßen zu haben, sich vor Gott selbst rechtfertigen zu müssen und es nicht zu können. Und wie göttliche Gnade war es ihr erschienen, wenn er ihr verziehen hatte. Und nun sollte dieser Gott so schreckliche Sachen gemacht haben.

      Wie lieb er gewesen war und wie streng. Wie unangreifbar. Wie hoch er über ihr gethront hatte, unerreichbar, und wie er sich doch immer wieder mit so zärtlicher Liebe zu ihr herabgeneigt hatte.

      Sollte das alles nicht mehr gelten? Sollte er wirklich ein Verbrecher sein? Einer, der ein junges Mädchen arglistig getäuscht hatte? Kein Gott, sondern ein Teufel? Nein, nein, nein, so etwas durfte sie nicht denken. Wir sind allzumal Sünder, hatte der Herr Pastor zu sagen gepflegt, bei dem sie Religionsunterricht gehabt hatte. Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

      Was um alles in der Welt war das genau: ein Sittlichkeitsverbrechen?

      Was auch immer es war, ein Mädchen hatte sich deswegen umgebracht, von einer Spreebrücke hatte es sich gestürzt. Fast noch ein Kind. Tränen liefen Sophie über das Gesicht, tropften auf ihr Kleid. Draußen ging der Türklopfer, Frieda durchquerte den Raum, um zu öffnen. Sophie merkte es nicht. Erst als Doktor Schneider ihr einen guten Abend wünschte, hob sie den Kopf. Sie sah ihn kaum durch den Schleier von Tränen.

      Er neigte sich nicht wie sonst formell über ihre Hand. Er sah sie mit einem Blick aufmerksamer Zuwendung an und legte ihr seine Rechte auf die Schulter. Ruhig, warm, fest. Eigentlich unvorstellbar, dass ein Mann einem jungen Mädchen, mit dem er nicht verwandt war, auf diese Art die Hand auf die Schulter legte. Und doch auf seine Art vollkommen richtig. Diese Berührung, außerhalb jeder gesellschaftlichen Konvention, erreichte tief ihr Herz. Auf einmal fühlte sie sich getröstet. Sie schluchzte erleichtert auf.

      Er griff in seine Brusttasche und reichte ihr ein makellos gebügeltes Taschentuch. „Ihre Frau Mutter wird wieder gesund“, sagte er. „Mit all meiner ärztlichen Erfahrung gebe ich Ihnen mein Wort dafür, Fräulein von Zietowitz.“

      Sie nickte und weinte. Das Weinen tat gut. Und auf einmal spürte sie das Verlangen, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen und von ihm gehalten zu werden wie von einem Vater.

      Da stand sie auf und ging rasch aus dem Raum.

      1.3

      „Meine sehr verehrte Baronesse, so geht das aber nicht!“ Von der Untersuchung der Mutter kommend, trat Doktor Schneider in den Salon und betrachtete Sophie, die mit ihrer Stickerei am Fenster saß, mit lächelndem Kopfschütteln.

      Verwundert sah sie auf und hob fragend die Augenbrauen. Wovon sprach er?

      „Ich bin zwar nicht Ihr Hausarzt, sondern nur der Ihrer verehrten Frau Mutter, aber dabei soll es auch bleiben, nicht wahr? Sie wollen sich doch bitte sehr nicht in einen Zustand bringen, dass auch Sie meinen ärztlichen Rat nötig hätten?“

      „Setzen Sie sich doch einen Moment, Herr Doktor“, erwiderte Sophie und wies auf einen Sessel. „Ich muss gestehen, dass ich Ihnen nicht ganz folgen kann. Wie steht es um meine Mutter?“

      „Die Frau Major ist auf dem Wege der Besserung, aber das ist ein langer und mühsamer Weg. Rekonvaleszenten in diesem Stadium werden leicht ungeduldig. Statt dankbar für die überstandene Gefahr und die unermüdliche Hilfe der Pflegenden zu sein, hadern sie leicht mit ihrem Schicksal und stellen immer neue Ansprüche, so ist nun einmal die menschliche Natur, davon weiß jeder erfahrene Arzt ein Lied zu singen. Kurz, ich müsste mich schon sehr wundern, wenn Sie mir jetzt sagen würden, die Pflege der verehrten Frau Mama sei ein Leichtes.“

      Sophie lachte und sah ihn an. Wie gut das tat, solche Worte — und dann dieses leise Lächeln um seine Augen, gepaart mit etwas anderem, was mochte es sein, vielleicht gar Bewunderung für ihre Leistung? „Nun, dann will ich mal nicht verschulden, dass Sie heute an Ihrer Erfahrung zweifeln müssen“, erwiderte sie lachend. „Ich gebe zu, Sie haben recht.“

      Er stimmte in ihr Lachen ein. Wie sie das auf einmal miteinander verband, dieses Lachen. Für einen Augenblick war alle Schwere vergessen. Doch dann verschwand das Lachen aus seinem Gesicht, und er beugte sich vor. „Im Ernst: Sie haben Großartiges geleistet, Fräulein von Zietowitz. Und Sie sind von der Pflege noch immer im höchsten Maße beansprucht. Verzeihen Sie, wenn ich den Blick des Arztes nicht ganz abstellen kann, auch wenn er gar nicht gefragt ist, aber Sie sehen erschöpft aus. Sie sollten die Stunden, in denen Ihre Patientin schläft, zur Erholung nutzen und nicht zur Arbeit.“ Damit machte er eine Kopfbewegung auf die Stickerei hin.

      Sophie spürte Röte ins Gesicht steigen. War er dahintergekommen, dass sie hier stickte, um Geld zu verdienen? Ein Arzt gewann leicht einen Blick hinter die Fassade, war sie nicht wachsam genug gewesen? „Aber das ist doch keine Arbeit“, erwiderte sie rasch.

      „Nicht? Nun, darüber ließe sich streiten, nicht wahr?“ Er schenkte ihr ein so

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