Berlin, Bülowstraße 80 a. Gabriele Beyerlein
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„Infektionsgefahr?“, fragte sie und zuckte zurück.
Er nickte. „Pneumokokken. Das Bakterium hat Professor Koch vor einigen Jahren isoliert. Sie müssen sich vor Ansteckung hüten. Kein unmittelbarer Kontakt mit der Frau Major, schon gar nicht mit dem Sputum, dem Auswurf — immer die Hände desinfizieren, ich erkläre es Ihnen gleich. Und niemals anhusten lassen, wir wollen doch nicht zwei Patientinnen haben! Das ist einer der Gründe, warum ich die Klinik vorgeschlagen habe. Aber wenn Sie und das Dienstmädchen sich an meine Instruktionen halten, werden wir das in den Griff bekommen.“
„Sie meinen, es geht auch zu Hause?“, fragte sie mühsam den Arzt.
Dr. Schneider nickte. „Wenn ich der Meinung wäre, dass die Einweisung in die Klinik die einzig richtige Entscheidung wäre, hätte ich das mit großer Bestimmtheit erklärt und nicht Ihrer Frau Mutter anheimgestellt. Im Gegenteil, vielleicht sind die Heilungschancen zu Hause sogar besser. Viel ausrichten kann die Klinik auch nicht. Jetzt ist alles eine Frage der richtigen Maßnahmen und der richtigen Pflege, der Konstitution Ihrer verehrten Frau Mutter und des Willens von dem da oben“, damit drehte er seine Augen kurz zur Zimmerdecke.
„So ernst?“, brachte Sophie heiser hervor.
„Ernst“, bestätigte er ruhig, „aber ich habe die Hoffnung, dass die verehrte Frau Major durchkommt. Am meisten Sorge macht mir nicht die Lunge, sondern das Herz. Ich schreibe Tropfen dafür auf, Hustensaft, Stärkungsmittel, alles, was möglich ist. Doch das Wesentliche ist die Pflege. Soll ich Ihnen behilflich sein, eine professionelle Pflegerin zu engagieren?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die Pflege übernehme ich selbst. Oder meinen Sie, ich kann das nicht?“
Er lächelte. „Sie können es mit Sicherheit, gnädiges Fräulein, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Allerdings steht Ihnen da eine anstrengende Zeit bevor. Doch der Tochter eines preußischen Offiziers liegt die Pflichterfüllung im Blut, nicht wahr? Ich bin gewiss, Sie werden meine Anweisungen auf das Genaueste einhalten. Und ich werde zweimal täglich vorbeischauen. Gehen wir in den Salon, dann erkläre ich Ihnen, worauf es ankommt!“
Sophie nickte. Sie würde alles tun, alles.
„Ich habe drüben eingeheizt“, erklärte Frieda, vom Salon hereinkommend. „Jetzt legen Sie sich nur noch einmal hin, Fräulein Sophie, ich bin wieder an der Reihe am Bett von der gnädigen Frau! Sie müssen zusehen, dass Sie bei Kräften bleiben. Wenn Sie auch noch krank würden, nicht auszudenken!“
Sophie nickte und stand auf. Seit die Mutter krank war, hatte Frieda stillschweigend so etwas wie eine Mutterrolle übernommen, und obwohl das nicht in Ordnung war, es tat gut.
Sophie achtete darauf, dass alle Anweisungen von Doktor Schneider erfüllt wurden: die richtige Lagerung der Mutter im Bett mit einer zusammengerollten Decke unter dem Brustkorb, das Befeuchten der Luft mit nassen Tüchern überall im Raum, das gründliche Lüften und immer wieder die Freiluftbäder, für die sie das Bett direkt ans offene Fenster rückten und bei denen die Mutter genau beobachtet werden musste, damit sie sich nicht abdeckte und verkühlte, die Herztropfen und der Hustensaft, die Brustwickel und Einreibungen, die fiebersenkenden Maßnahmen, das unermüdliche Einflößen von Honigtee und alles andere. Frieda aber achtete auf das Aufrechterhalten des Haushaltes und vor allem auf sie, auf Sophie.
„Was täte ich nur ohne dich, Frieda?“, seufzte Sophie und lächelte müde der alten Dienerin zu.
„Nun aber mal halblang!“, meinte diese. „Ich hab' Sie gepflegt, als Sie die Masern, die Windpocken und den Keuchhusten hatten — und da soll ich mich jetzt nicht um Sie sorgen dürfen?“
„Ach, Frieda!“ Ein letzter Blick auf die Mutter, die mit geschlossenen Augen dalag und stöhnend nach Luft rang. Konnte sie sie jetzt wirklich verlassen? Ihr schien, der Atem ging immer schwerer. Und das Fieber war höher denn je. „Aber wenn etwas ist, dann rufst du mich gleich! Und wenn Herr Doktor Schneider kommt, auch!“
„Aber ja doch, gnädiges Fräulein, da können Sie ganz getrost sein!“, beruhigte Frieda sie.
Sophie ging in den Salon, in dem auf Anraten von Doktor Schneider nun auf dem Sofa ihr Lager aufgeschlagen war, zog den Morgenmantel aus und schlüpfte unter die Decke. Todmüde fühlte sie sich, zum Umfallen erschöpft. Die erste Hälfte der Nachtwache hatte Frieda gehalten, doch seit Mitternacht sie selbst. Draußen graute der Morgen nach einer Nacht, in der sie Stunde um Stunde in dem Sessel gesessen, die Mutter beobachtet und ihr Handreichungen gemacht hatte. Sie war am Ende. Nur eine halbe Stunde schlafen —
Kaum lag Sophie, war sie überwach. Ihre Augen brannten. Unruhe im ganzen Körper. Ein dumpfes Ziehen und Krampfen in den Beinen.
Dreimal war Doktor Schneider gestern gekommen. Drei Mal. Das sagte mehr als alle Worte: Es stand äußerst ernst um die Mutter.
Und wenn die Mutter starb?
Sophie presste die Faust vor den Mund. Soll ich meinem Bruder telegrafieren, er ist in Westpreußen stationiert?, hatte sie gestern Abend den Herrn Doktor gefragt. Er hatte kurz überlegt und dann genickt: Telegrafieren Sie, gnädiges Fräulein. Er soll dringend um Urlaub ersuchen — die Krankheit nähert sich der Krisis. Ich will es Ihnen nicht verhehlen: Bald wird sich entscheiden, nach welcher Richtung der Zeiger ausschlägt. Die naturwissenschaftliche Medizin ist das eine, da tue ich, was in meiner Macht steht, doch ein Serum gegen Pneumokokken gibt es nicht. Oft genug sind uns Ärzten die Hände gebunden, dann heißt es auf das andere vertrauen, auf das, was wir nicht in der Hand haben, das Unwägbare. Da spielen der Glaube hinein und die Gefühle. Vielleicht, wer weiß, gibt die Liebe eines Sohnes den Ausschlag fürs Leben.
Und die Liebe einer Tochter? Konnte die nicht das Leben herbeiwünschen? Oder der Hass den Tod?
Sophie grub die Zähne in den Knöchel ihres Daumens. Hass war es doch nicht, was sie ihrer Mutter gegenüber empfunden hatte, das musste sie sich doch nicht vorwerfen, oder? Aber so vieles hatte sie unerträglich gefunden, all dies Starre, das Gegängeltwerden, besonders aber das Schweigen ...
Am liebsten hätte sie die Gedanken aus ihrem Kopf herausgerissen, die sie in letzter Zeit gehabt hatte, den ganzen Ärger über die Mutter — vor allem aber den schrecklichen Verdacht gegen sie. Es ging nicht. Sie öffnete die Augen. Kein Gedanke an Schlaf. Ihr Blick fiel auf den Sekretär.
Ich darf das nicht. Sie würde es nicht wollen. Ich würde ihre Krankheit ausnützen, um sie zu hintergehen. Und sie liegt nebenan, krank auf den Tod.
Aber ich muss es wissen! Jetzt dringender denn je.
Sophie sprang aus dem Bett, lief zum Sessel, holte den Schlüsselbund aus der Tasche ihres Morgenmantels, den Schlüsselbund der Mutter, der seit deren Erkrankung in ihre Obhut übergegangen war.
Sie fingerte den kleinsten Schlüssel heraus, den Messingschlüssel mit dem zierlichen Bart, erprobte ihn an der Schreibklappe des Sekretärs. Mühelos ließ diese sich aufschließen. Sophie zog den Stuhl heran, setzte sich, öffnete ein Fach nach dem anderen, blätterte in vergilbten Papieren und alten Briefen, zog Kästchen heraus, fand angelaufene Schmuckstücke, Orden, eine braune Locke