Berlin, Bülowstraße 80 a. Gabriele Beyerlein
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Ein trockenes Schluchzen war in ihrer Brust. Und sie rettete sich dahin, wohin sie sich immer rettete: in die Geschichten. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie sich immer Geschichten ausgedacht, auch davon geträumt, sie aufzuschreiben, wenn sie einmal groß war, sie hatte ja nicht geahnt, wie wenig Zeit sie haben würde, wenn es erst so weit war. Aber das Geschichtenerfinden, das ging immer weiter. Das war die Flucht, die keiner ihr nehmen konnte, nicht einmal die Mutter.
Mühelos nahm sie den Faden wieder auf, wo sie ihn ruhen gelassen hatte: bei dem jungen Rittmeister, der auf der Vorhut im Wald in einen Hinterhalt geraten und für tot gehalten und liegengelassen worden war, und bei der Förstertochter, die ihn gefunden und gerettet hatte. Und da pflegte sie ihn nun in ihrem Elternhaus, und keiner durfte wissen, dass er hier war, denn er war ja im Feindesland, und dann kamen Soldaten und ...
An der Tür, die das Hinterzimmer mit der Küche verband, klopfte es leise, und dann trat Frieda herein, in der einen Hand einen Becher, in der anderen einen Leuchter. „Gnädige Frau“, sagte Frieda, „ich hab' Sie so schrecklich husten hören, da hab' ich den Herd wieder angefeuert und einen Fencheltee gekocht. Wenn Sie mir den Schlüssel zur Speisekammer geben, dann kann ich Ihnen auch noch einen Honig herausholen, das wird Ihnen guttun, es gibt nichts Besseres als heißen Tee mit Honig bei so einem Husten.“ Damit stellte sie Leuchter und Becher auf das Tischchen und beugte sich über das Bett der Mutter, um dieser zu helfen, sich aufzurichten.
„Mein Gott, gnädige Frau!“, rief sie dann entsetzt. „Sie glühen ja! Und ganz nassgeschwitzt! Schnell, Fräulein Sophie, stehen Sie auf, wir müssen der Frau Major was Trockenes anziehen, sonst verkühlt sie sich noch mehr, und das Bett frisch beziehen, und dann will ich gleich zum Doktor laufen. Ihre Mutter ist gar nicht mehr ganz bei Sinnen vor lauter Fieber! Gott, ach Gott, die gnädige Frau so krank und ruft nicht nach mir! Holen Sie nur gleich ein frisches Nachthemd aus dem Schrank, gnädiges Fräulein!“
Sophie stieg aus dem Bett, warf sich den Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln und zwängte sich zwischen Tisch und Kommode zum Schrank. Das Nachthemd in der Hand stand sie daneben, als Frieda der Mutter das durchgeschwitzte Hemd auszog und ihr damit Brust und Rücken abrieb. Sophie wollte nicht hinschauen und tat es doch.
Seit rund zwölf Jahren schlief sie mit der Mutter im selben Raum. Aber noch nie hatte sie diese unbekleidet gesehen, stets zogen sie sich voreinander verborgen hinter dem Paravent um. Und nun war da der nackte Oberkörper ihrer Mutter. Der Busen. Sophie starrte wider Willen.
Beschämend fand sie es für die Mutter und für sich selbst. Hatte Frieda denn nicht das geringste bisschen Schamgefühl, sonst war Frieda doch auch nicht so! Die Mutter jedoch ließ es ergeben mit sich geschehen, die Augen geschlossen, zu keinerlei Widerstand mehr in der Lage, auch nicht zur Wahrung ihrer Würde. Und an dieser Tatsache plötzlich begriff Sophie: Ihre Mutter war todkrank.
Da kam Bewegung in Sophie. Sie half Frieda, das Bett frisch zu beziehen, die Kissen aufzuschütteln, der Mutter den Tee einzuflößen und ihr einen Brustwickel zu machen. Sie hielt die Mutter an den Schultern, während ein Hustenanfall sie erschütterte. Dann eilte Frieda davon, und Sophie zog sich rasch an und räumte das Zimmer auf. Die schmutzige Bettwäsche und das gebrauchte Geschirr in die Küche bringen, die Kleider der Mutter hinter dem Paravent verschwinden lassen, das Fenster kurz öffnen, das eigene Bett machen und zudecken, die Petroleumlampe anzünden. Arbeiten, um nicht denken zu müssen. Vor allem nicht das eine: Hat mein Hass sie krank gemacht? Kann mein Hass sie etwa töten?
Hör auf!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Lass solche heidnischen Gedanken! Christlich sind sie jedenfalls nicht. Bete lieber! Aus tiefer Not schrei' ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Lass meine Mutter nicht sterben, Gott! So war es doch nicht gemeint. Und selbst wenn sie schuld ist am Tod meines Vaters ... Nein, so geht das nicht.
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name ...
Sie versuchte den Ofen anzufeuern, es gelang ihr nicht, noch nie in ihrem Leben hatte sie sich darum kümmern müssen. Schließlich gab sie es auf. Nun fiel ihr nichts mehr ein, was sie tun könnte.
Wie lange dauerte es denn noch, bis Frieda endlich mit diesem Doktor Schneider zurückkam! Er würde doch gleich kommen, oder? Und wenn Frieda es nicht schaffte, ihn dazu zu bringen, mitten in der Nacht? Sie hätte lieber selbst gehen sollen, dann hätte er sich nicht entziehen können. Aber nein, das war unmöglich, eine junge Dame durfte nicht nachts auf die Straße, das war ganz und gar ausgeschlossen. Selbst wenn es für die Mutter um Leben und Tod ging?
Die Mutter hustete, ohne die Augen zu öffnen. Rang spürbar nach Luft. Und dann begann sie zu zittern. Sie zitterte so, dass es sie richtig schüttelte. Gespenstisch klapperten die Zähne aufeinander. Wie weiß ihr Gesicht war und wie unnatürlich rot die Backen glühten! Und die Lippen, bildete sie sich das ein, oder waren die Lippen wirklich bläulich? Und dieses Zittern der Nasenflügel, bei jedem Atemzug bebten sie, so etwas hatte sie noch nie gesehen — Doktor Schneider, um Himmels willen, beeilen Sie sich!
Sophie sprang auf, deckte ihr Bett wieder ab, nahm ihr Federbett und türmte es über das der Mutter. Die Mutter zitterte vor Schüttelfrost.
Aus der Kommode holte Sophie die alte schwere Kamelhaardecke und breitete sie ebenfalls über das Bett. Die Mutter zitterte. Jeder Atemzug klang wie ein Stöhnen. Diese Atemnot ...
Da setzte sich Sophie auf die Bettkante, nahm die heiße Hand ihrer Mutter zwischen ihre Hände und begann zu singen, sang gegen die Verzweiflung an und gegen die Angst, sang das Lied, das ihr früher die Mutter gesungen hatte, wenn sie krank gewesen war: „Der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen ...“ Sie sang Strophe um Strophe. Ihr schien, die Mutter wurde ruhiger, das Zittern ließ nach. „Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsre kranke Mutter auch“, sang Sophie. Da ging draußen die Tür, und kurz darauf trat Doktor Schneider herein.
Noch niemals war sie beim Anblick eines Menschen so erleichtert gewesen wie jetzt bei seinem. Die Verantwortung in kompetente Hände abgeben zu können und einen Ort zu haben, an den sie ihre Angst tragen konnte. Beinahe wortlos begrüßte sie ihn und machte den Platz frei am Bett ihrer Mutter.
Die Untersuchung beobachtete sie von ferne, das Fiebermessen, das Abklopfen und Abhorchen der Brust, das Pulsfühlen. Wie routiniert er das alles machte, wie sicher und doch gleichzeitig behutsam — ihm konnte man vertrauen. Er würde wissen, was zu tun war. Als die Mutter von einem neuen Hustenanfall erschüttert wurde, wandte er sich an Frieda: „Ein Spucknapf! Rasch!“ Dann sprach er eindringlich auf die Mutter ein: „Bitte, gnädige Frau, spucken Sie den Auswurf aus, hier in die Schale, vergessen Sie ausnahmsweise Ihre Kinderstube, ich muss mir das Sputum ansehen!“ Und die Mutter, die Sophie noch niemals hatte spucken sehen, fügte sich.
Ermattet sank die Mutter in die Kissen zurück. Er betrachtete den Inhalt das Spucknapfes — Sophie warf von weitem einen kurzen Blick darauf und erschrak zutiefst, als sie etwas Rotes sah: Blut! —, dann entnahm er seiner Tasche ein Gefäß und wusch sich die Hände. Sie erkannte den scharfen Geruch: Karbolsäure. „Gnädige Frau, Sie haben eine akute beidseitige Pneumonie, will sagen eine heftige Lungenentzündung. Damit ist nicht zu spaßen“, erklärte er mit großem Ernst und legte seine Hand auf die der Mutter. „Wenn Sie es wünschen, weise ich Sie in die Charité ein.“
Die Mutter öffnete die Augen. „Nicht die Charité!“, brachte sie nach Luft ringend hervor. „Keine Klinik. Zu Hause. Sophie ...“ Hilfesuchend ging ihr Blick zu Sophie, ehe sie wieder die Augen schloss.
Sophie schluckte. Nur zu klar war ihr, warum die Mutter eine Klinik ablehnte: Sie hatten das Geld nicht dafür.
Sie kniete am Lager der Mutter nieder, griff