Berlin, Bülowstraße 80 a. Gabriele Beyerlein

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Berlin, Bülowstraße 80 a - Gabriele Beyerlein

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biss die Zähne aufeinander. Nichts sagen, sonst würde sie schreien. Nichts sagen, dann ging es vorüber.

      Schweigend arbeiteten sie. Unter Sophies Händen entstanden die Umrisse einer Rosenblüte, die Blätter, der Stiel. Sie sah kaum, was sie schuf, unzählige Male hatte sie schon das gleiche Muster auf Handtäschchen, Sofakissen, Schmuckdöschen und Polsterbezüge gestickt.

      Hin und wieder streifte sie von der Seite das Gesicht ihrer Mutter mit einem kurzen Blick. Die Mutter schien wirklich krank zu sein. Das Atmen machte ihr Mühe, feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und ihre Augen wirkten seltsam matt und glänzend zugleich.

      Hat diese Frau da meinen Vater auf dem Gewissen? Hat sie ihn verlassen wollen, meinen Bruder und mich verlassen wollen, mit einem anderen Mann die Flucht geplant? Beziehung. Was sind diese sogenannten Beziehungen, dass sie so unaussprechlich sind und Offiziere sich deswegen duellieren? Um einen Kuss allein kann es dabei nicht gehen, da muss noch etwas anderes sein, etwas Dunkles, Verborgenes, etwas, was ich nicht wissen soll, weil es angeblich die Unschuld einer höheren Tochter gefährdet. Du sollst nicht ehebrechen ...

      Und wenn ich ihr nun unrecht tue? Wenn meine Mutter am Tod meines Vaters unschuldig ist und ich sie hier ganz fälschlich verdächtige? Dann versündige ich mich gegen sie.

      Mein Gott, hilf mir doch! Ich halte diese Gedanken nicht mehr aus!

      Der Mann lag mitten im Schnee, kopfüber. Ein Säbel steckte in seinem Rücken. Nun erhob er sich taumelnd, drehte sich herum, brach wieder in die Knie. Blut lief über seine weiße Weste und tropfte in den Schnee, färbte ihn rot.

      Sie wusste, sie musste ihm helfen. Aber sie stand starr und konnte sich nicht rühren. „Deine Mutter“, flüsterte er heiser, „sag ihr ...“ Er fiel vornüber, sein Gesicht grub sich in den Schnee. Keuchend ratterte ein Dampfzug über den Bahndamm.

      Mit klopfendem Herzen lag Sophie im Bett. Die Mutter hustete. Sophie drehte sich auf die Seite, drückte das eine Ohr auf das Kopfkissen, presste die Zudecke gegen das andere, es nützte nichts. Wie sollte man schlafen bei diesem ständigen Husten der Mutter?

      Wie sollte man schlafen bei solchen Träumen?

      Die ganze Nacht schon jagten sie sich, einer nach dem anderen.

      Immer und immer wieder der Vater in seinem Blut. Deine Mutter, sag ihr ...

      Nun hatte sie die letzten Worte des Vaters nicht gehört, konnte seinen Willen nicht erfüllen. Würde die Wahrheit nie erfahren.

      Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die Mutter bei den Schultern gepackt, hätte sie gerüttelt und angeschrien: Hör auf zu husten! Sag mir lieber die Wahrheit! Was war das mit dem Duell? Warum hast du nicht Abschied von Vater genommen? Warum musste er sterben? Warum sind wir nach seinem Tod in Armut gestürzt? Was hast du mit Vaters Tod zu tun?

      Sie tat es nicht. Sie würde es nie tun. Sie war eine Zietowitz, sie wusste, was sich gehörte und was nicht. Sie würde schweigen — und wenn sie daran erstickte.

      Doch wie sollte sie weiterleben, mit der Mutter zusammenleben mit diesen Gedanken? Schwer genug war es, seit dem Abschluss der Höheren Töchterschule bis auf hin und wieder ein paar Stunden bei Cecilie die ganze Zeit mit der Mutter zu verbringen, jeden Augenblick unter deren Aufsicht zu stehen, von ihr pausenlos beobachtet, korrigiert, getadelt und angewiesen zu werden, sich deren Diktat von gutem Ton und erstrebenswerter Bildung unterordnen zu müssen. Schwer genug. Doch nun, wo die Fragen um den Tod des Vaters und der entsetzliche Verdacht hinzugekommen waren, erschien es Sophie völlig unerträglich.

      Nebenan in der Küche rumorte es. Selbst Frieda konnte nicht schlafen, weil die Mutter sie alle mit ihrem Husten weckte. Frieda, das altgediente Dienstmädchen, das die Antworten wusste, aber nicht preisgab, weil die Mutter es verboten hatte.

      Da war es wieder, das Kind, verängstigt in seinem Bett. Draußen im Flur schrie die Mutter. Und dann war Frieda da, Frieda mit ihren rauen Händen und weichen Brüsten, Frieda, die sie an sich drückte und sie wiegte und flüsterte: Ist ja gut, Sophie, ist ja gut. Ach Gott, Kindchen, armes Wurm! Hast keinen Vater mehr, weil der jetzt im Himmel ist, beim lieben Gott. Aber Frieda lässt dich nicht allein, die ist immer für dich da, das schwör ich dir.

      Sophie lag ganz still. Diese Erinnerung, sie musste doch noch weitergehen. Hatte Frieda noch etwas gesagt, damals, am Morgen des 6. März?

      Aber da war nichts mehr, nur das.

      Die Mutter hustete. Sophie presste die Hände an die Ohren. Könnte sie einfach weggehen! Aufstehen, sich anziehen, Mantel, Hut und Muff nehmen, die Wohnung verlassen ohne ein Wort und niemals wiederkehren. Nein, nicht ohne ein Wort, von Frieda würde sie Abschied nehmen und ihr versprechen, dass sie ihr eine Karte schickte.

      Und dann? Nach Hamburg fahren und sich nach Amerika einschiffen? Ach, was für ein Unsinn, ihr Geld reichte nicht einmal für eine Fahrkarte bis Hamburg, geschweige denn für die Überfahrt nach Amerika! Und auch wenn sie Englisch gelernt hatte, war ihre Bildung ansonsten mit Sicherheit nicht die richtige Voraussetzung, um sich in Amerika durchzuschlagen.

      Also nicht Amerika. Nicht einmal ein paar Straßenzüge weiter in Berlin. Denn schließlich, womit sollte sie ihr Geld verdienen? Mit Sticken vielleicht? Wie wenig man dafür bekam, das wusste sie zur Genüge, es würde für Essen und Kleidung reichen, doch nicht für eine Wohnung oder ein Zimmer in einer anständigen Pension. Eine Stellung als Gouvernante oder Gesellschafterin, irgendwo auf einem Gut in der Mark oder in Ost- oder Westpreußen? Immerhin sprach sie gut Französisch und ganz passabel Englisch, konnte ordentlich Klavier spielen, singen und vorlesen, und in Fragen des Benehmens war sie so sicher, wie man es nur durch eine gute Kinderstube werden konnte. Ja, Gouvernante oder Gesellschafterin, das wäre das Einzige überhaupt, wofür sie das Rüstzeug hätte, was für sie denkbar wäre.

      Aber wie sollte sie eine Anstellung bekommen, ohne Referenzen! Und ohne die Einwilligung ihrer Mutter und ihres Onkels. Mit so einem Namen, den jeder kannte. Keine einzige Familie würde es geben, die eine Zietowitz engagierte, ohne sich zu vergewissern, dass die Baronin von Zietowitz und der Oberst von Zietowitz damit einverstanden wären. Und diese Einwilligung würde sie niemals bekommen, unter keinen Umständen, denn Mutter und Onkel würden es als der Familienehre abträglich empfinden, wenn sie sich für Bezahlung engagieren ließ.

      Und die Verwandten? Konnte sie zu den entfernten Verwandten reisen, bei denen durch das Majorat das Erbe geblieben war, das Schloss und das Gut, und sie um Aufnahme bitten? Sophie verzog das Gesicht. Denen auf der Tasche zu liegen als die arme Nichte, der man wohl oder übel Asyl gewähren musste und die man dafür täglich spüren ließ, wie unwillkommen sie war ...

      Nein. Es gab keinen Ort, wohin sie gehen konnte.

      Wenn nur einer käme, einer, durch den alles anders würde, mit einem Schlag! Einer, der sie fragen würde, ob sie mit ihm käme. Ja, würde sie sagen, bis ans Ende der Welt, und je weiter weg, desto lieber!

      Aber da war keiner. Bei den Bällen zog sie bewundernde Blicke auf sich, das schon, manchmal erhielt sie auch galante Bemerkungen oder gar den Vorschlag eines Ausflugs in den Wintergarten. Aber nicht mit einem der Herren, die sie zum Tanz aufgefordert hatten, war es so gewesen wie mit Fürst Andrej und Natascha. Nicht einer hatte ihr Herz berührt. Und darauf kam es doch an, aufs Herz.

      Sah denn keiner, was für ein Herz in ihr auf ihn wartete? Merkte keiner, dass da eine ganze Welt in ihr war wie ein unterirdischer See, der noch nicht entdeckt

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