Die heilende Zeit. Nadja Solenka
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Georgios begann das Gespräch: „Es wird wohl heute noch Regen geben. Eigentlich schade, man kann sich nicht so einfach auf den Weg in die Berge machen, um seiner Langeweile zu entrinnen.“ Tanita zuckte zusammen. Er sprach so vertraut mit ihr, als würden sie sich immer schon kennen. „Ich bin gar nicht mal so schade damit, die Sonne war doch viel zu drückend. Irgendwie musste wohl mal die Spannung raus. Es wird mit Sicherheit ein Gewitter geben müssen.“ Er lächelte, trank an seinem Rotwein und erklärte, dass er ja Unterschlupf finden könnte bei seinen Eltern, die aus diesem Bergdorf stammen würden. Sie hätten sich in Deutschland eine Ferienwohnung erarbeitet. Man könnte letztendlich nichts dagegen haben, außer dass sie weder heimatliche Gefühle für das griechische Land, noch für ihr Leben in deutschen Gefilden hätten. Und dann stellte er sich mit Namen vor: „Ich heiße übrigens Georgios.“ Auch Tanita benannte sich. Er fand ihren Vornamen interessant und selten, aber passend zu ihrer Melange in der Haut, was er nicht laut sagte.
Dann drehte sie nervös an dem Knopf ihrer dunklen Bluse herum, die aus ihrer Jacke hervorschaute. Überrascht war Tanita, dass er so persönliche Worte über sein Leben zum Ausdruck brachte, man kannte sich doch gerade erst. Sie öffnete ihre Windjacke, ohne sich großartig dessen bewusst zu sein.
Als der Kellner kam, errötete Tanita und Georgios schmunzelte in sich hinein. Nachdem sie das Essen bestellten, lächelten sie sich zu, der Kellner war schon außer Sichtweise. Natürlich duzten sie sich, sie waren beide ja erst Anfang um die dreißig.
Georgios aß bedächtig seine Souflakia und Tanita war froh, dass ihr der „griechische Salat“ mundete. Beim Essen sprachen sie wenige Worte. Nachher zündete sich Georgios eine selbst gedrehte Zigarette an.
Tanita, die etwas aufgelockert war durch den Wein, erzählte auch sie würde ihre Familie besuchen. Sie sagte: “Meine Mutter, eine Griechin, ist ebenso hier, mit meinem Stiefvater, einem Deutschen. Vavroula hatte sich im Bergischen viel Geld angespart, zunächst mit meinem leiblichen Vater, der auch Deutscher war und früh verstarb. Es war soviel Geld, dass sie mit meinem Stiefvater so viel ansammelte, dass sie sich hier in Kalambaka ein Häuschen erstehen konnten.“ Georgios meinte: „Komisch, dass mir deine Mutter mit ihrer Familie nie so ins Auge gefallen ist.“ Tanita antwortete: “Ach so, ich war oft bei meiner deutschen Tante untergebracht. Ich war ein schwieriges Kind, musste um meinen Stand in der Schule kämpfen. Meine Mutter war mit meinem Vater und im späteren mit meinem Stiefvater bei den Großeltern mütterlicherseits in Kalambaka. Irgendwie scheint man sich verpasst zu haben, aber die Schulferienzeiten sind ja zumeist unterschiedlich in Deutschland.“ Er nickte. Tanita meinte weiterhin: „Vielleicht war es auch so vorherbestimmt, dass ich die Schule durch meine Tante Hermine schaffte. Sie war halt strenger und kannte sich mit deutschen Schulaufgaben besser aus als meine Mutter, und dann war mir das lieber so. Bestimmt hätte ich mich sonst nicht so zurecht gefunden.“ Georgios meinte zustimmend: „Das ist bei halb-griechischen Migranten nichts seltenes. Vielleicht wollte man dir nur helfen.“
Im weiteren vertrauten Gespräch kam heraus, dass er Physiker und Mathematiker wäre, in Berlin studiert hätte und im Lehramt sein Einkommen haben würde. Tanita erklärte dazu: Sie hätte trotz Kind, einem Sohn mit Namen Stephanos, Soziologie und Germanistik studiert und im weiteren keine Anstellung gefunden. Später wäre sie dann einfach Bäckerei-Fachverkäuferin geworden. Georgios schluckte enttäuscht, dachte seine neue Bekannte wäre schon vergeben, aber im Gespräch stellte sich dann heraus, dass sie alleinerziehend wäre. Er atmete erleichtert auf. Schließlich wurde er aufgrund ihres müden Blickes neugierig und schlug eine Wanderung zu einem der Meteora-Klöster vor. Und Tanita sagte nicht nein, sie hatte gedacht, er würde sie für lebensuntüchtig halten. Laut sagte sie: „Warum nicht.“
Georgios bezahlte für sie mit und Tanita war das etwas peinlich, kannten sie sich doch kaum, aber sie wollte ihm nicht vor dem Kopf stoßen. Nachdem sie das Restaurant verlassen hatten, schien die Sonne wieder heiß. Ein angenehmer Wind blies.
Während der Wanderung schwiegen sie eine Weile und Tanita wurde diese Wortlosigkeit schon unangenehm, da durchbrach Georgios die Stille und fragte fast unmotiviert: „Bist du eigentlich Einzelkind?“ Tanita antwortete direkt, froh, dass man einen Gesprächsstoff gefunden hatte: „Nein, meine Halbschwester Kassie ist auch hier, sie ist siebzehn Jahre alt.“ Georgios wich einem Stein, der auf dem Boden lag, aus und meinte: “Die habe ich bestimmt noch nicht großartig hier bemerkt.“ „Dieses Dorf hat augenscheinlich einen anonymen Charakter. Schon zwei Straßen weiter und man weiß nicht genau, wer wer ist“, entgegnete sie. Tanita duckte sich dann vor einem herunter hängendem Ast und fragte: „Aber mal was anderes, hast du eigentlich auch noch eine Schwester oder einen Bruder?“ Georgios sagte: „Ja, ich habe Geschwister, die aus einer zweiten Ehe meines Vaters stammen. Meine beiden Schwestern sind diesmal nicht dabei. Und dazu, dass man sich nicht so traf, ist zu sagen, dass ich mit meiner Familie nach Frankfurt kam, als ich noch klein war. Auch ich war seltener bei den Ferien dabei, aber erst in späteren Jahren. Da war ich schon älter. Ich kam dann wenig hierhin. Ging mehr in die Jugend-Freizeiten. Das wurde damals gesellschaftsfähig in Deutschland und außerdem wollte ich nicht ständig mit meinen Eltern und den Großeltern zusammen sein.“ Tanita nickte verständnisvoll. Sie war erstaunt über sein Vertrauen und seine persönliche Ausdrucksweise. Georgios sagte dann, als sie so gar nichts dazu sagen wollte: „Dann haben meine Eltern die Mietwohnung erst erstanden, als ich siebzehn war. Sie sind sehr stolz auf ihren Besitz. Ich kann damit weniger anfangen, aber ich gönne es ihnen. Sie haben es sich schließlich hart erarbeitet.“ Tanita, die nicht ahnte, dass dieser beinahe Vortrags-artige Monolog seine Art war zu werben, antwortete begeistert über seine Redeweise: „Das tun die Griechen in Deutschland zumeist, das arbeiten bis zum Umkippen, hier kennt man sie anders.“
Tanita erzählte während ihrer Wanderung durch das Tal, dass sie viel zu früh Mutter geworden war. Stephanos wäre ein „Betriebsunfall“ gewesen, als sie ihn gebar wäre sie gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen.
Georgios atmete nervös aus, ein wenig enttäuscht war er, dass ihr das Leben so etwas angetan hatte. Laut sagte er hingegen, als sie durch ein Dickicht gingen: „Eine junge Mutter zu sein, damit hat man wenigstens eine Aufgabe und ist früher wieder aus der Kiste raus.“ Tanita lächelte und sagte: “Stephanos ist ein wissbegieriger Junge, und es macht mir viel Spaß ihn großzuziehen. Außerdem habe ich schon noch Hilfe mit ihm. Momentan ist er bei Bertine, meiner Großmutter, in Deutschland. Sie ist gerne mit Stephanos, weil er der einzige Enkelsohn ist, ist sie ganz vernarrt in ihn.“ Georgios antwortete einfühlend: „Dann kannst du dich von der schweren Verantwortung immer mal erholen.“ Schließlich stellte er beiläufig die Frage: „Und gibt es einen sozialen Ersatzvater?“
Tanita erbleichte, dann sagte sie: „Momentan nicht. Ich möchte auch weniger einen Mann, der meinen Sohn mit anderen Vorstellungen erzieht, da bin ich ganz eigen. Dann finde ich es auch spannend einen Sohn groß werden zu sehen, der dann später etwas besonderes wird. Ich musste mir bei allem, was ihm und mir im Leben so geschah, sehr viel selber einfallen lassen.“ „Und was war das alles?“, fragte Georgios interessiert. Denn er konnte sich nicht vorstellen, dass einem dies oder das schwer sein könnte, wenn man wirkliche Hilfe hatte, was er dann auch laut thematisierte. Tanita zog die Stirn kraus, fast wirkte es so, dass sie etwas wütend werden wollte, weil er ihr vielleicht schweres unterstellen wollte. Aber sie lenkte innerlich ein, sie wollte nichts laut sagen. Und Tanita erinnerte sich daran, dass ihre Mutter zumeist in so einem Zusammenhang erklärte, dass man selber Kinder haben müsste, um über die Aufzucht etwas zu wissen. Tanita überlegte deswegen, dass sie Georgios nicht erklären würde, was genau das Schwere an der Erziehung von anspruchsvolleren Kindern wäre. Sie bevorzugte es zu erzählen, dass sie des öfteren mit Stephanos zu den Meteora gegangen wäre. Und ihr Sohn ihr eines Tages eine schwierige Frage stellte, die sie merkwürdigerweise direkt beantworten konnte, als hätte Gott seine Hand dabei im Spiel gehabt. „Und welche Frage war das?“, fragte Georgios gespannt. „Er wollte wissen, wie die Monolithen entstanden wären“, antwortete