Nach Amerika! Bd. 1. Gerstäcker Friedrich
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«Ach geht mit Euren erbärmlichen Lamentationen an solch’ freundlichem Tag», fiel ihm der Wirt hier in die Rede, der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile unruhig mit dem Kopf geschüttelt hatte. «Das Reden macht’s nicht besser, und Stöhnen und Seufzen hilft auch nichts – Kopf oben, das ist die Hauptsache; das andere macht sich von selber. – Aber hallo», unterbrach er sich plötzlich, von seinem Sitz aufstehend und die Straße hinunterzeigend, die in das weite Tal führte. «Was kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?» Und in der Tat wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen Wägelchen sichtbar.
«Das sind Auswanderer!» rief Jakob Kellermann, von seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend. «Seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus dem Hessischen; Heiland der Welt, da muß doch endlich einmal Platz werden!»
«Na, nu ist wieder der Frieden beim Henker!» rief aber der Apotheker mürrisch. «Hier, Lobsich, setzt Euch auf Euren Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr, Kellmann, laßt das Volk da draußen laufen, wohin sie wollen – unzufriedene Bande, die es ist, und die es nirgends gut genug kriegen kann, wo ihr nicht das Konfekt auf goldenen Tellern präsentiert wird. Na, kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht – Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren ziehen, daß Ihr am hellen, lichten Tag die Sterne zu sehen bekommt.»
«Nein, was für ein Zug!» rief aber Kellmann, die langsam näher kommende Schar mit unverkennbarem Interesse betrachtend. «Die armen Teufel!»
«Hört, Kellmann», rief aber Schollfeld ärgerlich, «jetzt tretet mir da ein wenig aus dem Weg, daß ich auch ‘was sehen kann, und setzt Euch wieder; ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, daß Ihr Maul und Nase aufsperrt und tut, als ob Euch so etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.»
Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch; er hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter die Nase sagte: «Ich mag nicht mehr in dir leben und weiß einen Platz, wo’s besser ist.» Das d a c h t e n sich nämlich die ,Tölpel’, wie er sie nannte, aber sie w u ß t e n es nicht – gar nichts wußten sie, und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen; Hunderte von Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, anderen noch obendrein ein böses Beispiel gebend, und er begriff die Regierung nicht, wie sie dem Volke nur noch einen Paß gestatten konnte.9
Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen, um Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten, um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals trocken machte.
Die ersten Wagen passierten still vorbei; die Führer warfen einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick nach den behaglich hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem kühlen, funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern blieben mehrere Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der Gartentür stehen, und während ein paar der Männer dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten, in ihrer bestaubten, schmutzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen herübersehenden Gruppen hineinzugehen, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Tal öffnete, durch das sie gekommen, blieben sie erfreut und überrascht stehen und schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem Schlag so vor ihnen ins Leben sprang.
«Heiland der Welt, Lisbeth!» rief ein etwa sechzehnjähriges Mädchen der vielleicht zwei Jahre älteren Schwester zu. «Dort drüben liegt Holstetten und von da ist’s nur noch neun Stunden nach Haus – dahinter kann ich den weißen Weg durch’s schwarze Nadelholz sehen, der hinüberführt nach Krisheim.»
«Ja, Marie», antwortete das Mädchen, und während sie sprach, liefen ihr die großen, hellen Zähren an den bleichen Wangen nieder, «gleich hinter dem Berg dort muß die Windmühle liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher… »
Sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll, und sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdämmen ließ sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark, und beide Mädchen standen wenige Minuten still und weinend da, die schönen tränenüberströmten Züge den ihr nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimat, die sie wohl nie im Leben wiederschauen sollten, zugekehrt.
«Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält und pflegt, wie sie es versprochen?» brach die Jüngste endlich wieder mit leiser, kaum hörbarer Stimme das Schweigen.
«Sie hat’s ja versprochen», flüsterte fast ebenso leise die Schwester zurück. «Aber - - - so lieb wird sie’s doch nicht haben wie wir.»
«Komm, Lisbeth», sagte die Jüngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei anzusehen, der Schwester Hand, «wir wollen gehen – die Wagen sind schon ein Stück voraus.»
Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimat zu, und schritten dann schweigend Hand in Hand ihre weite, unbekannte Bahn den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte.
«He, Marie, Lisbeth!» rief sie der Vater an, der eben an der Tür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte. «Wollt Ihr einmal trinken, Kinder?»
«Ich danke, Vater», sagte Marie zurück, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben, «wir sind nicht durstig.»
«Woher des Wegs, Ihr Leute?» wandte sich jetzt Kellmann, der trotz Schollfelds ärgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen.
«Aus Hessen», sagte der Mann ruhig und tat einen langen, durstigen Zug aus dem mit dem trefflichen Bier gefüllten schäumenden Glas.
«Und wohin?»
«Nach Amerika.»
«Hm – ist ein weiter Weg – ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Lande?» sagte Kellmann, die kräftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend betrachtend.
Der Bauer, dessen Blick indes auch an dem fernen Punkt gehangen, wo seine frühere Heimat lag, ließ das Auge einen Moment wie mißtrauisch über den Frager gleiten und erwiderte dann leise und kopfschüttelnd:
«Schlecht? – Lieber Gott, wie man’s nimmt; man soll g’rad nicht klagen. Der liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen.»
«Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen, die in Amerika herumfliegen?» mischte sich hier der Apotheker ins Gespräch, der nicht umhin konnte, dem ,Auswanderer’, wie er sich ausdrückte, ,einen Hieb zu versetzen’. – «Habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?»
Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann einen Augenblick ruhig von der Seite an, bezahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein Bier, und ohne irgend etwas auf die Frage zu erwidern oder ärgerlich darüber zu scheinen, ja als ob