Kurzgeschichten. Gisela Schaefer
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„Ehepaare ohne Kinder nennt man nicht Waisen, sondern Kinderlose,“ erklärte der Rektor, „was mir in diesem Fall besonders leid täte,“ fügte er hinzu und Herr und Frau Thanner waren nicht ganz sicher, wie sie sein rätselhaftes Lächeln deuten sollten.
„Und warum versuchen sie seit Jahren, mich loszuwerden?“
„Ist das so?“
„Ja, erst bringen sie mich an einen Ort mit lauter kleinen Kindern, wo ich winzige, alberne Hütchen aufsetzen und ‚Häschen in der Grube‘ singen muss. Oder meine Hände in glitschige Farbe tauchen und auf die Wand drücken soll … nun gut, das könnte man noch als Nachahmung prähistorischer Kunst betrachten. Dann soll ich in ihre Schule gehen, damit ich das ABC lerne, dabei wissen sie genau, dass ich das schon lange kann. Steht alles in Büchern, oder im Internet: Wie man Quadratwurzeln zieht, oder wann Alexander der Große die Schlacht bei Issos geschlagen hat.“
„Könntest du mich mit deinen Eltern wohl einen Moment allein lassen,“ sagte der Rektor nach kurzem Besinnen.
„Sieht so aus, als wenn ihr Sohn als ABC-Schütze nicht infrage kommt.“ Der Rektor bemühte sich ehrlich um eine bedauernde Miene.
Thanners sahen betreten zu Boden, nichts lief einfach mit Thilo.
„Könnten sie nicht … wenigstens für ein, zwei Jährchen?“
„Allenfalls die 3. und 4. Klasse. Aber bitte dann ohne Schultüte, ich will keinen Aufstand an meiner Schule.“
„Aufstand?“
„Können sie sich vorstellen, was passiert wenn bekannt wird, dass er zwei Jahrgänge überspringen durfte?“
„Nein.“
„Mindestens die Hälfte der Eltern meiner Erstklässler wird mir die Bude, ich meine mein Büro einrennen und einen Test verlangen für ihren Sprössling.“
„Oje!“
„Das können sie laut sagen! Und hinterher sind sie dann deprimiert, wenn sie schwarz auf weiß bestätigt bekommen, dass sie leider kein unerkanntes Genie in der Familie haben … und die armen Kinder müssen es ausbaden.“
„Keine Schultüte, mein Ehrenwort,“ stammelte Frau Thanner.
„Abgemacht … ach so, noch was … nach der Vierten geht er aufs Gymnasium, kann ich mich darauf verlassen?“
„Hundertprozentig,“ sagte Herr Thanner wie aus der Pistole geschossen.
„Ich mag sowieso keine Süßigkeiten,“ sagte Thilo, als er später von der Vereinbarung
hörte, „aber ich brauche ein besseres Mikroskop,“ wobei er demonstrativ ein Sparschwein auf den Tisch stellte. Dass dorthinein eine Ausgleichszahlung für die wegfallende Schultüte erfolgen sollte, verstand sich von selbst. Ein paar Tests der Form halber, und Thilo saß in der dritten Klasse, dann in der vierten – beide Jahre eine Tortur für Lehrer, Mitschüler und für Thilo selber.
Als er mit acht Jahren aufs Gymnasium wechselte, nahmen seine Klassenkameraden zunächst an, dass er unter Kleinwüchsigkeit leide und empfanden teils Mitleid, teils verspotteten sie ihn. Wie staunten sie jedoch, und wie kleinlaut wurden sie, als bekannt wurde, dass seine Größe exakt zu seinem Alter passte, und er seine Kenntnisse schneller erweiterte, als sie die Seiten ihrer Bücher umblättern konnten. Thilos große Leidenschaft galt den Naturwissenschaften und allem, was mit Technik zu tun hatte. Während andere Schüler sich über komplizierte Sachverhalte die Haare rauften, gequält stöhnten, über unzumutbaren Stress klagten, vom Nachbarn oder vom Spickzettel abschrieben, Unwohlsein vortäuschten oder ihre todkranke Oma im Krankenhaus besuchen mussten, blühte Thilo richtig auf. Sein Zimmer erweckte nun nicht nur den Eindruck einer Bibliothek, sondern auch nach und nach eines Labors und einer Werkstatt. Mehr denn je vergrub er sich dort, nahm am Familienleben eigentlich nur zu den Mahlzeiten teil, immer freundlich und zuvorkommend – außer wenn man ihn in seinem persönlichen Universum störte.
Wenn zum Beispiel Großtante Hedwig zu Besuch kam, die Brust vorwölbte und misstrauisch fragte: „Was macht denn das Kind dauernd in seinem Zimmer?“ Um dann gleich darauf loszuträllern: „Hallooooh, Tante Hedwig ist da, wer will Gummibärchen?“
Dann war es ratsam, alles stehen und liegen zu lassen um sie zu begrüßen. Thilo hasste Gummibärchen, aber wenn er sie ihr nicht freudestrahlend im Flur aus der Hand riss, betrat Tante Hedwig sein Reich – und das war noch schlimmer. Denn dann musste er in ihre entsetzten Augen sehen, wenn ihr Blick umherschweifte, musste ihr verständnisloses Kopfschütteln hinnehmen und sich ihre Standpunkte, von denen sie Unmengen hatte, anhören.
„Was man von den Kindern heutzutage verlangt … also ich stehe auf dem Standpunkt, dass ein gescheites Rechen- und Lesebuch ausreichen, aus uns ist schließlich auch was geworden. Du tust mir leid, mein armer Junge.“
Hin und wieder war ihr bei solchen Gelegenheiten der Gedanke gekommen, dass Thilo ja
eventuell auch – na ja – schwer von Begriff sein könnte. Jedenfalls war es nicht normal, dass jemand so lange Zeit zum Lernen brauchte, das war ihr Standpunkt.
Außer anlässlich solch kleiner Zwischenfälle oder Störungen war Thilo ganz zufrieden mit seinem Leben, von Langeweile keine Spur, es gab gottseidank mehr Wissenswertes, als er sich je hätte vorstellen können. So weit, so gut – aber dann, eines Tages, lud ihn seine Mutter ungewöhnlich förmlich zu einem Gespräch unter vier Augen ein. Sie sagte nicht wie üblich: „He, Thilo, hör mal zu …“, nein, sie sagte: „Thilo, ich würde gern etwas mit dir besprechen. Könntest du dich bitte zu mir setzen.“
Dabei deutete sie auf einen Wohnzimmersessel und stellte eine Schüssel Kekse, eine Tasse Kakao und eine Tasse Kaffee auf den Tisch.
„Oha,“ dachte Thilo alarmiert, „ein Arbeitsessen!“ Und war gespannt, welches Geschäft sie im Auge hatte.
„Also … ähm … es ist so … ich, äh … ich meine, du bist jetzt über 11 Jahre alt und Marie fast sieben … nun, um es kurz zu machen, ich möchte wieder arbeiten gehen, halbtags.“
Thilo sah ihr an, wie froh sie war, diesen Satz herausgebracht zu haben, fragte sich aber, was er damit zu tun hatte, warum sie das nicht mit ihrem Mann besprach.
„Prima,“ sagte er und steckte sich einen Keks in den Mund, „wann geht’s los?“
„Oh, das könnte schon recht bald sein, aber natürlich nur mit deinem Einverständnis.“
„Okay,“ Thilo zog die Schultern hoch – wo war das Problem?
„Du weißt ja, Marie kann sich noch nicht so gut alleine beschäftigen und Papa hätte größte Bedenken, wenn den ganzen Nachmittag über niemand da wäre, der sich um sie kümmert.“
„Marie,“ fragte Thilo und dachte an das kleine, meist rosa Ding, das ihm zuweilen begegnete - ihm schwante Unheil.
„Ich hab mir alles gut überlegt: Die Stelle ist für nachmittags. Den ganzen Vormittag bin ich also zuhause, kann das Frühstück machen, die Wohnung aufräumen, einkaufen … und wenn ihr mittags aus der Schule kommt, steht was zum Essen auf dem Tisch. Um halb sechs bin ich zuhause und koche für uns alle eine warme Mahlzeit. Was