Kurzgeschichten. Gisela Schaefer
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phantasierst, wie es sein könnte. Oh! So spät schon! Ich muss los, leb wohl Marie, bis
zum nächsten Mal.“
„Wann kommst du wieder,“ fragte sie noch, aber Trulle gab keine Antwort mehr.
Marie hatte vollstes Vertrauen in die Weisheit ihres Eulen-Männchens und befolgte seine Ratschläge. So war sie nicht allzu überrascht, als sie mühelos drei Seiten ihres Heftes füllte. Untendrunter schrieb sie: „Dies ist eine wahre Geschichte, die ich etwas ausgeschmückt habe“. Sie durfte ihren Aufsatz vor der Klasse vorlesen, was eine besondere Auszeichnung ist und niemand kam auf die Idee, sie für eine Lügnerin zu halten.
Eine Weile nach Lektion 1 bemerkte Thilo, wie Marie Trulle immer öfter erwartungsvoll anschaute, ohne jedoch ein Wort zu verlieren – es war offensichtlich, dass sie sich eisern an Regel Nr. 1 hielt, obwohl sie, das war ebenfalls offensichtlich, ein Anliegen hatte.
„Hi Marie!“
„Oh, hallo Trulle, bin ich froh, dass du wieder da bist.“
„Und? Wie lief es mit deinem Aufsatz?“
„Das glaubst du nicht,“ sprudelte sie hervor, „ich hab schon zwei geschrieben, drei und vier Seiten lang, und in beiden habe ich eine Eins bekommen!“
„Ich bin platt,“ sagte Trulle, „du hast meine Erwartungen weit übertroffen. Wie geht’s dir sonst? Täusche ich mich oder bist du ein klein wenig verstimmt?“
Marie sah überrascht auf. „Ach,“ druckste sie herum und verdrehte ihre Finger, „es ist nur, weil Bettina so eine blöde Zicke geworden ist.“
„Das sind harte Worte!“
„Ja, und ich kann sie überhaupt nicht mehr leiden.“
„Das wär schade, sie ist doch deine beste Freundin. Was macht sie denn so Schlimmes?“
„Sie ist dauernd frech zu mir. Sie sagt, meine Aufsätze wären gar nicht so toll und Barbie sähe albern aus in ihrem altmodischen rosa Abendkleid, und spielen will sie auch nicht mehr mit mir.“
„Warst du auch frech zu ihr?“
„Bis jetzt nicht, aber bald!“
„Dann frage ich mich, warum sie zickig geworden ist … wenn du ihr nichts getan hast, muss es einen anderen Grund geben.“
„Ach, sie ist nur neidisch.“
„Mhm, kann schon sein … vielleicht aber auch nicht. Ich meine, vielleicht sieht es nur so aus. Marie, Lektion Nummer 2: Gebrauche deinen Verstand.“
„Was meinst du damit?“
„Versuche, Bettina zu verstehen statt sie einfach zu verurteilen. Es ist möglich, dass sie diese Dinge nur tut oder sagt, weil sie selber Kummer und Sorgen hat. Hab Geduld und bleib freundlich, so gewinnst du ihr Vertrauen. Und bei Gelegenheit fragst du sie, was sie bedrückt. Wie die Zeit vergeht … mach’s gut, Marie, bis demnächst mal.“
Marie überlegte – versuchen konnte sie es ja. Also ließ sie sich nicht weiter ärgern durch Bettinas ruppiges Benehmen, sondern überhörte es einfach und blieb gleichbleibend freundlich. Eines Tages, als sie sich wieder unausstehlich benommen hatte, sah Marie sie nur traurig und fragend an. Da traten Bettina plötzlich Tränen in die Augen und sie fing leise an zu schluchzen. Marie, erschrocken über diesen unerwarteten Gefühlsausbruch, legte einen Arm um sie. „Warum weinst du denn?“
Bettina schüttelte ihren Kopf, nein, sie wollte nicht darüber sprechen, aber dann wurde der Druck in ihrem Innern übermächtig.
„Weil meine Eltern so böse miteinander streiten, schon lange … und jetzt wollen sie sich scheiden lassen … und sie haben gesagt, dass ich bei meiner Mutter bleiben werde und mein Vater wegzieht. Aber ich will meinen Vater auch haben. Und ich versteh auch nicht, warum sie dauernd zanken …“
Trulle hatte mal wieder Recht gehabt, soviel Kummer und Sorgen, da musste man doch schlechte Laune bekommen und zickig werden.
„Das ist wirklich schlimm,“ seufzte Marie, „ich glaube, für Erwachsene ist es schwer, sich zu vertragen. Aber wenn du bei deiner Mutter wohnst, bleibst du wenigstens hier in der Nähe, das ist doch schön, oder? Und dein Vater kommt dich bestimmt oft besuchen, oder du ihn. Komm, wir gucken Seifenblasen … willst du ein Eis?“
Bettina nickte, putzte sich die Nase und lächelte zaghaft – ihr war schon etwas leichter.
Von da an besuchte sie Marie öfter als jemals zuvor und erzählte ihr zwischen Seifenblasen oder umherziehenden Fischen, wie es bei ihr zuhause lief. Wie ihr Vater im Internet nach einer Wohnung suchte, wie er seine Bücher in Kisten verpackte und seine Kleider in Koffer, wie er sie noch einmal in die Arme genommen hatte bevor er endgültig von ihnen ging, und wie ihre Mutter mit rot verweinten Augen die schriftliche Bestätigung des Gerichts in Händen hielt, dass ihre Ehe rechtsgültig geschieden sei. Geteiltes Leid ist halbes Leid - Maries und Bettinas Freundschaft wurde in dieser Zeit zu einem unerschütterlichen Bündnis, all ihre kleinen und großen Geheimnisse vertrauten sie sich an. Nur eines verschwieg Marie: Trulles Beredsamkeit.
Sie war inzwischen älter geworden und glaubte natürlich nicht mehr daran, dass ein Stofftier denken und sprechen konnte. Außerdem war ihr aufgefallen, dass Thilo immer dann in seinem Zimmer war, wenn Trulle sich meldete und dass Trulles Stimme eine auffallende Ähnlichkeit mit der ihres Bruders hatte. Marie fühlte sich in einem Zwiespalt: Sie hätte Thilo gern direkt gefragt, aber sie hatte ja versprochen, mit absolut niemandem darüber zu reden - Regel Nummer 3! ‚Absolut‘ schloss Thilo mit ein – und eines wollte sie nicht, wer oder was immer Trulle war, sie wollte ihn auf keinen Fall verlieren.
Es vergingen Monate, ehe er sich wieder meldete.
„Guten Tag, Marie. Lange nichts mehr voneinander gehört.“
„Ja,“ antwortete sie mit einem nicht zu überhörenden Vorwurf in der Stimme, „ist aber nicht meine Schuld.“
„Ich weiß, ich weiß, sei bloß nicht eingeschnappt. Hab halt auch noch anderes zu tun.“
„Und was?“
„Schwer zu sagen … dies und das … was ist übrigens mit Bettina?“
„Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, weil’s so viel Ärger gab zwischen ihnen … Erwachsene sind schon komisch.“
„Das kannst du laut sagen - manchmal sehen sie nur von außen erwachsen aus. Warum läufst du heute eigentlich mit so einem mürrischen Gesicht herum?“
Marie sah mit Abscheu auf ihre zwei Stricknadeln und den schmalen Streifen mühsam gestrickter rechter Maschen.
„Wir müssen Stricken lernen, einen Schal, zehn Zentimeter habe ich schon.“
„Prima!“
„Gar nicht prima, ist das Langweiligste, was du dir nur vorstellen kannst. Millionen von rechten Maschen, der wird bestimmt nie fertig und ich mag ihn sowieso nicht … langweilig,