In Berlin vielleicht. Gabriele Beyerlein

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deren Tochter wäre ...

      Aber sie war nur das Haus- und Kindermädchen der Lehrerfamilie, und das zählte nicht in den Augen der Leute. Und der Siewer-Bauer —

      Noch einmal schleuderte Lene eine Hand voll Kiesel gegen die Bäume. Dann ging sie entschlossen auf die Wirtschaftsgebäude zu. Ob die Mutter in der Gesindestube war? Oder im Stall? Nein, zum Füttern und Melken war es noch zu früh, ausgemistet musste längst sein, und Feldarbeit gab es nicht am Sonntagnachmittag außer zur Ernte. Aber vielleicht war die Mutter mit den anderen Landarbeitern aus. Warten würde Lene jedenfalls nicht. Sie musste gleich wieder heim zur Lehrerfamilie. Der Weg dauerte fast zwei Stunden und sie musste ja rechtzeitig zurück sein, um das Kaffeegeschirr abzuwaschen und die Kleinen für die Nacht fertig zu machen, und Schulaufgaben von gestern hatte sie auch noch zu erledigen. Samstagnachmittag war immer Großputz, da blieb nie Zeit für die Schule, und um nichts in der Welt wollte sie die halbe Stunde nach dem Abendessen versäumen, wenn der Herr Lehrer Klavier spielte und sie alle miteinander sangen.

      Lene klopfte an die Tür zum Gesindehaus und wartete. Die Mutter war erst seit letztem Jahr hier in Dienst. Dauernd wechselte sie die Stellung und Lene war bisher nur ein einziges Mal hier gewesen, zu Weihnachten. Da hatte sie der Mutter ein Geschenk gebracht, Fingerhandschuhe, die sie im Handarbeitsunterricht gestrickt hatte. Die Mutter hatte sie schweigend genommen, ohne zu sehen, wie gut das Muster gelungen war, aber vielleicht hatte sie es ja doch gesehen und nur nichts gesagt. Jedenfalls hatte sie auch ein Geschenk für Lene gehabt, zwei grüne Haarschleifen von dem Juden Abraham, der mit seinem Bauchladen auch immer ins Dorf kam. Daran sah man ja eigentlich, dass die Mutter sie nicht vergessen hatte, obwohl sie schon vor fünf Jahren weggegangen war.

      Aber das hieß noch lange nicht, dass sie zu ihrer Konfirmandenprüfung kommen würde und zu ihrer Konfirmation.

      Heftig stieß Lene die Tür auf und spähte in den dämmrigen großen Raum.

      „Tür zu!“, fuhr eine unwirsche Stimme sie an. Vor einem der kleinen Fenster saßen vier Männer beim Kartenspiel, sonst war niemand zu sehen. „Was willst du hier?“

      „Ich such meine Mutter!“, erklärte Lene. „Aber sie ist wohl nicht da.“ Rasch wandte sie sich wieder zum Gehen.

      „Langsam, Mädchen! Deine Mutter, wer ist das?“

      „Die Marie Schindacker“, erwiderte Lene.

      „Soso. Die Marie, sieh mal an! Dann geh mal in den Garten hinterm Haus. Könnt sein, sie ist dort. Wusste ja gar nicht, dass sie eine Tochter hat, die Marie!“ Der Mann lachte.

      Lene stieg das Blut in den Kopf. Also hatte die Mutter nichts von ihr gesagt und wollte nicht, dass die anderen es wussten, und nun hatte sie es verraten ...

      Aber eine Tochter blieb doch eine Tochter! Und die konnte nichts dafür, dass sie nicht willkommen gewesen war und dass es keinen Vater für sie gab, nur einen, der ihr seinen Namen nicht hatte geben wollen! Und dieses ganze Gerede im Dorf über ihre roten Haare und die roten Haare vom Siewer-Bauern, all diese halben Andeutungen darüber, warum der Siewer-Bauer eine Magd mit Kind auf seinem Hof geduldet hatte, und dieses doofe Lachen! So blöd war sie nicht, dass sie sich nicht zusammenreimen konnte, was dahintersteckte, und dann bekam sie einen knallroten Kopf und wusste nicht, was sie sagen sollte, so wie jetzt.

      Blindlings stolperte sie in den Garten.

      Die Mutter saß auf der Feierabendbank an der sonnenbeschienenen Hauswand und hatte die Augen geschlossen. Fast leblos saß sie da, die abgearbeiteten Hände im Schoß zusammengelegt, tiefe Falten um den Mund. Nicht älter als dreißig war sie, aber wie eine alte Frau sah sie aus, und so fremd.

      Beinahe wäre Lene wieder gegangen. Sie räusperte sich. „Mutter!“

      Die zuckte zusammen, öffnete die Augen, blinzelte gegen die Sonne. „Du!“, sagte sie. Mehr nicht. Keine Regung, keine Überraschung, keine Freude. Und dann nach einer langen Pause: „Sag nicht, dass dich der Lehrer rausgeworfen hat!“

      „Nein!“ Lene schüttelte den Kopf. „Es ist nur ...“ Sie sprach nicht weiter.

      „Was — nur?“, fragte die Mutter schroff.

      „In zwei Wochen ist Konfirmandenprüfung“, erwiderte Lene heiser. „Und in vier Wochen Einsegnung.“

      Die Mutter rückte auf der Bank zur Seite. Lene setzte sich neben sie. Das war immerhin ein Anfang. Sie schwiegen.

      „Du kommst, weil du nichts anzuziehen hast!“, stellte die Mutter schließlich fest.

      „Nein! Doch! Ich — ich meine ...“ Lene verhaspelte sich. Warum nur stiegen ihr die Tränen auf? Sie würde nicht heulen, nein, das Heulen hatte sie sich doch schon vor langer Zeit abgewöhnt und sie wusste ja, wie die Mutter war. Überhaupt war ihr alles gleich, und diese fremde Frau hier allemal. „Die Frau Lehrer hat mir ihr abgelegtes Kleid gegeben, das arbeite ich um. Ich nehm die abgewetzten Stellen raus und die Ärmel schneid ich einfach ab, weil — an den Ellenbogen sind sie durch, aber sonst wird das Kleid gut, und sie leiht mir ihre Schuhe. Die Frau Lehrer hat zwei Paar Schuhe, sie sind mir zwar zu groß, aber das macht nichts.“ Lene unterbrach ihren Redeschwall. Es half alles nichts, die Frage musste raus. Mühsam rang sie sich ab: „Die Frau Lehrer schickt mich. Ich soll dich fragen, ob du zu meiner Prüfung kommst. Und zur Einsegnung.“

      Keine Antwort.

      Lene wartete. Hörte auf zu warten.

      Sie hätte nicht kommen sollen. Sie hatte doch gewusst, wie es enden würde.

      Aus dem Haus dröhnten die dumpfen Faustschläge, mit denen die Knechte ihre Trümpfe auf den Tisch hieben. In der Ferne schrie ein Kind.

      „Was für eine Farbe hat das Kleid?“, fragte die Mutter.

      „Grau.“

      Die Mutter schüttelte den Kopf. „Schwarz muss es sein. Was denken sonst die Leute!“

      „Was denken sie erst, wenn du nicht kommst!“, brach es aus Lene heraus.

      Die Mutter fuhr auf „Ich hab gesagt, ich geh da nie wieder zurück! Schlimm genug, dass ich neun Jahre dort bleiben musste mit dir, nur damit du ein Dach über dem Kopf gehabt hast, bis du alt genug warst, in Stellung zu gehen, weil mich mit Kind keiner genommen hat. Schlimm genug. Und der Siewer-Bauer hat noch getan, als wär's eine Gnade — und die Bäuerin erst! Das Kotzen kommt mir, wenn ich an die denk! Und die Leute mit ihrem Gerede, als hätt ich mir das so ausgesucht! Als wär's nicht der Bauer gewesen, der mir nachgestiegen ist, bis ich mich nicht mehr erwehren konnte, blutjung wie ich war!“

      Lene saß da mit offenem Mund. Noch nie hatte die Mutter davon gesprochen, noch nie. Und wie es sich anhörte!

      Das Herz schlug Lene im Hals. Ein seltsames Rauschen war in den Ohren.

       Bis ich mich nicht mehr erwehren konnte — nur damit du ein Dach über dem Kopf gehabt hast ...

      „Die sehn mich nie wieder!“, erklärte die Mutter.

      An sie, an ihre eigene Tochter, dachte die Mutter anscheinend gar nicht dabei.

      „Es wär ja nur für die Kirche“, murmelte Lene schwach.

      „Nur!“ Die Mutter lachte höhnisch. „Nur die Kirche!“ Dann stand sie abrupt auf. „Komm!“

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