In Berlin vielleicht. Gabriele Beyerlein

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In Berlin vielleicht - Gabriele Beyerlein

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da, warum ging sie nicht einfach?

      Die Mutter nahm ihr gutes schwarzes Gewand, das in ein Tuch gehüllt auf einem Bügel an der Wand hing, und hielt es Lene hin: „Da! Mach dir dein Konfirmationskleid daraus! Kannst es zerschneiden, mir passt es nicht mehr!“

      Lene brachte keinen Ton heraus. „Aber“, begann sie endlich.

      „Jetzt geh!“, meinte die Mutter harsch. „Ich muss in den Stall! In zwei Wochen ist Prüfung, sagst du?“

      Lene nickte stumm.

      „Dass du ja alles kannst!“, drohte die Mutter.

      Das Kleid über dem Arm polterte Lene die Treppe hinunter und lief aus dem Haus. Sie rannte, bis sie die Allee erreicht hatte, rannte auch dort immer weiter. Laut klapperten ihre Holzpantinen auf dem Kopfsteinpflaster.

      Als sie endlich nach Atem ringend stehen blieb, wurde ihr klar, dass sie noch immer nicht wusste, ob die Mutter nun eigentlich kommen würde oder nicht.

      „Ist mir doch gleich!“, schrie sie in den Wind und stapfte weiter. „Ist mir doch gleich!“

      Die Anne hatte doch mit ihr im gleichen Schulzimmer gesessen!

      Lene, im Kreis der anderen Schüler, starrte die Fremde an, die da während der Schulpause mitten auf dem Dorfplatz stand und sich drehte und wendete, damit man sie von allen Seiten bewundern konnte. Nein, es war nicht zu fassen, dass diese feine Dame dieselbe Anne sein sollte, die vor drei Jahren nach der Schulzeit aus dem Dorf weggegangen war. Anne hatte doch genauso wie Lene keine Schuhe gehabt und hatte sich so wie Lene mit einem bis zur Unkenntlichkeit geflickten Drillichkleid und einer verwaschenen Schürze in die Schulbank der Großen gedrückt, dieselbe Bank, die nun Lenes Platz war. Nur so gute Antworten wie Lene hatte die Anne nie gegeben. Und jetzt war sie eine Städterin in Lederstiefeletten und hatte es weit gebracht, das sah man gleich.

      Dabei hatte die Anne nicht einmal einen Vater. Das hieß, immerhin hatte sie einmal einen gehabt, einen Häusler ohne Land, der nichts besessen hatte als die winzige Kate mit Garten und eine einzige Ziege und der seine Familie als Tagelöhner mühselig ernährt hatte, bis er beim Holzfällen unter eine umstürzende Eiche geraten war.

      Die Schulkinder standen mit offenen Mündern um Anne, die vornehme Heimkehrerin, und gafften. „Was ist denn das?“, fragte schließlich eines und wies auf den hellblau und weiß gestreiften, mit Volants gesäumten kleinen Schirm, den Anne in der Hand hielt.

      „Ein Sonnenschirm, was sonst!“, erwiderte diese, öffnete den Schirm und ließ ihn über ihrer Schulter kreiseln. „So was tragen die Damen in der Stadt, damit ihre Haut blass bleibt, weil: Das ist vornehm.“

      Tatsächlich, stellte Lene fest, Anne war mehr als blass. Fast durchscheinend sah sie aus. Sie musste sehr vornehm geworden sein.

      Und dieses Kleid! Aus leichtem, hellem Stoff, Meter um Meter musste der hinten zu einem richtigen Höcker geraffte Rock verschlungen haben, und dann auch noch ein Unterrock, dessen Spitzen darunter hervorsahen! Und bestimmt trug Anne — Lene schaute scharf auf die unerhört schlanke und straffe, irgendwie eisern wirkende Taille der anderen —, nein, es gab keinen Zweifel, Anne hatte ein Korsett an! So etwas trug im Dorf einzig und allein die Frau Pastor.

      „Aber Anne“, fragte Lene leise, „wie bist du denn so reich geworden? Hat dich am Ende ein feiner Herr geheiratet?“

      „Was noch nicht ist, das kann noch werden!“, antwortete die Gefragte und lachte. „In drei Tagen geh ich ja wieder zurück nach Berlin. Und in Berlin gibt es jede Menge feine Herren. Aber das, was ihr hier seht, das hab ich mir selbst verdient. Fabrikarbeiterin in einer Spinnerei bin ich, damit ihr es nur wisst!“ Sie warf ihren Kopf in den Nacken, dass die künstlich gekräuselten Locken unter dem zierlichen Hut wippten, und blitzte herausfordernd in die Runde.

      Fabrikarbeiterin! Lene stockte der Atem. Die Dorfkinder starrten.

      „Dass du dich das zuzugeben traust!“, meinte Grete, die Tochter des reichen Lenz-Bauern, abfällig. „Und dann auch noch, als wär's ein Grund zum Stolz! Schämen tät ich mich!“

      Lene schluckte. Sie mochte die Grete nicht, aber es war was dran an dem, was diese da aussprach: Es wurde nicht gut geredet von den Fabrikarbeiterinnen, was die für welche wären. Und in dem Journal, das die Frau Lehrer las und in das Lene manchmal einen Blick warf, stand öfter etwas darüber unter der Überschrift „Die sittliche Frage“. In der gleichen Rubrik, in der auch etwas über Prostitution stand und über das Unwesen der Schlafgänger und die unsittlichen Zustände im Obdachlosenasyl. Aber bei der Anne war das bestimmt etwas anderes, Anne war ja hier aus dem Dorf.

      „Schämen? Wofür?!“, erwiderte die Angegriffene herausfordernd und blitzte Grete an. „Arbeit ehrt, habt ihr das nicht vom Herrn Lehrer gelernt? Ich hab keinen Grund, mich zu schämen! Hinterm Mond lebt ihr hier und habt keine Ahnung von der Welt und von dem, was zählt! Und ihr seht ja, wozu man es bringen kann, wenn man dieses Kaff hier verlässt und in die Stadt geht, die einzige Stadt, die überhaupt der Rede wert ist — Berlin“, schloss Anne ihren Auftritt, drehte sich auf ihrem hohen Absatz um und stolzierte in Richtung der Kate ihrer Mutter davon.

      Lene sah ihr nach: Mutig war sie, die Anne, und stolz. So wäre sie selbst auch gern.

      Berlin! Ganz schwindelig wurde ihr bei dem Gedanken. Hoffentlich hatte sie heute Gelegenheit, Anne noch weiter auszufragen! Aber die Frau Lehrer hatte gesagt, Lene müsse heute Nachmittag die Beete umgraben und Mist ausbreiten und Karotten und Radieschen ansäen, da blieb wohl keine Zeit, mit den kleinen Lehrerkindern an der Hand einen Ausflug zur Kate von Annes Mutter zu machen ...

      In Berlin wüsste niemand, dass sie keinen Vater hatte und im Kuhstall im Stroh geschlafen hatte, bis vor fünf Jahren der Herr Lehrer sie zu sich genommen hatte als Kinder- und Hausmädchen. Und sie sah sich in Berlin in einer hohen, hellen Fabrik mit großen Fenstern und irgendwelchen blitzenden Maschinen, und da arbeitete sie und hatte so ein Kleid und solche Stiefeletten an wie Anne ...

      Die Schulglocke schrillte. Lene zuckte zusammen. Die Pause war vorüber.

      Mit den anderen Schülern rannte Lene zur Schultür. In Paaren stellten sie sich auf, vorne die Kleinen, dann die Mittleren, hinten die Großen bis hin zu den Größten, die so wie Lene in wenigen Wochen die Schule verlassen würden.

      „Nach Berlin würd ich auch mal gern!“, flüsterte Lene dem neben ihr stehenden Mädchen zu, ohne recht darauf zu achten, dass es die Grete war. Die antwortete nicht, gab nur ein abfälliges Schnauben von sich, das so viel hieß wie: „Du doch wohl nicht!“

      Hätt ich bloß nichts gesagt!, dachte Lene. So blöd bin ich auch! Ausgerechnet die Grete! Wo die doch was Besseres ist und einmal den Lenz-Hof erbt und jetzt schon die Bauernsöhne um sie anstehen!

      Der Herr Lehrer öffnete die Schultür. Sofort verstummten alle Gespräche. Schweigend strömten die Kinder in den großen Schulraum und zwängten sich wieder in ihre Bänke. Holzpantinen klapperten, bloße Füße scharrten, dann war es still. Kaum hörte man mehr das Atmen der vielen Schüler. Der Herr Lehrer duldete nicht die geringste Störung.

      Alle Augen hingen an ihm. Da fiel es nicht auf, dass auch Lenes Augen es taten. Hier durfte sie ihn anschauen, ohne Angst haben zu müssen, dabei ertappt zu werden. Und konnte Bilder in sich aufnehmen, die sich nachts im Bett abrufen ließen, Bilder zum Träumen, so genau wie Fotografien. Seine große, schlanke Gestalt. Seine hohe Stirn und der klare Blick, dem selten etwas entging. Der kurz gehaltene Backenbart, der an den Wangen schon ein paar graue Haare aufwies, die ihr das

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