In Berlin vielleicht. Gabriele Beyerlein

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In Berlin vielleicht - Gabriele Beyerlein

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und keiner wüsste, dass sie nur die Tochter von der Marie Schindacker war, die sich mit einem verheirateten Bauern eingelassen hatte! Oder sich nicht richtig gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte, was keinen Unterschied machte in der Meinung der Leute. Denn dass man vor der Hochzeit schwanger wurde, das ging an, das war beinahe der Brauch, wenn zwei zueinander gehörten, auch wenn der Herr Pastor von der Kanzel dagegen wetterte und die Brautleute deswegen ins Gebet nahm. Aber dass man nicht heiratete, wenn ein Kind unterwegs war, das ging nicht an. Das ging ganz und gar nicht an. Und so was wie mit Lenes Mutter und dem Siewer-Bauern schon erst recht nicht.

      Die Einzigen im Dorf, die nie ein Wort über die Sache verloren, waren der Herr Lehrer und die Frau Lehrer. Die waren gut zu Lene und passten auf, dass etwas Ordentliches aus ihr wurde, dass sie tüchtig war im Arbeiten und im Lernen und die Zehn Gebote hielt, und sie gaben ihr ein richtiges Bett in der Kammer, in der ihre eigenen Kinder schliefen, und immer genug zu essen.

      Beim Siewer-Bauern hatte sie nicht genug zu essen bekommen. Ganz unten am Tisch hatte sie gesessen, und der Topf mit dem Essen wurde von einem zum anderen weitergeschoben. Erst nahm sich der Bauer. Dann der Großknecht. Dann der Sohn. Wenn es ein Stück Speck oder Bauchfleisch gab, war es nur für die drei. Das war eben so. Aber dann kam der zweite Knecht und dann die Bäuerin und dann die Tochter und dann Lenes Mutter, und dann nahm sich die zweite Magd den Rest. Und wenn der Topf bei Lene angekommen war, lagen meist nur noch ein paar Kartoffeln drin, und manchmal nicht einmal das. Dann hatte sie schon froh sein dürfen, wenn sie ihn mit einem Stück Brot auskratzen durfte. Weil ihre Arbeit eben die leichteste war und man so viel zu essen bekam, wie die Arbeit wert war, die man leistete. Zum Glück hatte ihr die Altbäuerin manchmal Pflaumenmusbrote oder Schmalzbrote zugesteckt ...

      Aber das war schon lange vorbei. Der Herr Lehrer und die Frau Lehrer waren jedenfalls mit ihrer Arbeit zufrieden und manchmal lobten sie sie sogar, und die Frau Lehrer hatte ihr ein abgetragenes Kleid geschenkt, damit sie sich daraus ein Kleid für die Prüfung machen konnte.

      Nächsten Sonntag war es so weit.

      Ob vielleicht die Mutter doch ...

      „Blau!“, erklärte der kleine Wilhelm ernsthaft und streckte Lene einen Baustein hin.

      „Ja, blau! Da hinein!“ Sie zeigte auf das richtige Fach im Anker-Baukasten. „Das ist lieb von dir, dass du auch schon beim Aufräumen hilfst, Willi. Du bist eben schon groß!“

      „Groß!“, bestätigte er stolz und legte den Klotz mit konzentrierter Miene in den Kasten. Plötzlich konnte sie nicht anders, als ihm durch die dunklen Haare zu strubbeln.

      „Na ja! Von wegen groß!“ Hans, der es sich mit seinem Bilderbuch im Lehnsessel bequem gemacht hatte, lachte. „Schau mich an! Ich trage schon Hosen! Und nach Ostern komm ich in die Schule!“

      „Eben!“, meinte Lene. „Und da du ja schon so groß bist, könntest du schnell mit aufräumen, ich muss nämlich die Hilde ins Bett bringen! Und du weißt ja, wenn dein Vater zum Essen kommt, muss alles in Ordnung sein.“

      Hans verzog das Gesicht, doch er legte das Buch aus der Hand und half seinen kleinen Brüdern, die Spielsachen einzusortieren. Der Hinweis auf den Vater half immer. Lene nahm Hilde auf den Arm — „Mach noch einmal winke, winke!“ — und stieg mit ihr die schmale Stiege hinauf, legte sie im Schlafzimmer des Lehrerehepaars in die Wiege und setzte sich daneben auf den Boden. Hilde begann ein Protestgeschrei, das sich jedoch bald legte, als Lene ein Lied zu singen und die Wiege zu schaukeln begann. „Auf dem Berge, da wehet der Wind, da wiegt die Maria ihr Kind ..."

      Der Kleinen fielen die Augen zu. Ganz weich und gelöst wurde ihr Gesichtchen. Sacht streichelte Lene ihr über die Wange. Wie zart die Haut war! Lene beugte sich über die Wiege und drückte ihre Lippen auf die Stirn des Babys. Es duftete nach Seife und nach Milch und nach Baby eben. Und es machte, dass es auch in Lene weich und gelöst wurde und ein bisschen feierlich, fast wie zu Weihnachten in der Kirche.

      Eines Tages, irgendwann, würde sie selbst auch ein Baby haben ...

      Lene lächelte.

      Ihr Baby sollte es so gut haben wie die Hilde. Wie Hilde sollte es eine richtige Wiege in einem richtigen Zimmer haben und süßen Brei und frische Windeln bekommen und jeden Tag gebadet und im Kinderwagen spazieren gefahren werden oder unter den Apfelbaum gestellt, damit es die Blätter und die Vögel beobachten konnte. Aber ein Kindermädchen brauchte ihr Baby nicht, es hatte ja sie. Und es sollte überhaupt keinen anderen lieb haben als sie. Außer den Vater natürlich, den es dann ja auch geben musste, irgendwie, denn fehlen sollte es dem Kind an nichts, an gar nichts. Vielleicht konnte sie ja einen finden, der groß und schlank war und eine hohe Stirn hatte und schmale Hände und der ein Lehrer war ...

      Lene lehnte ihren Kopf an die Wand und schloss die Augen. Wie im Nebel verschwammen ihre Gedanken, wohlig lullte der Rhythmus des Wiegens sie selber ein. Sie glitt in das Reich zwischen Wachen und Schlafen, eine schwere Wärme breitete sich in ihren Gliedern aus. Nicht einschlafen!, sagte sie sich noch, dann sank ihr das Kinn auf die Brust.

      „Lene! Ich soll dich holen!“ Beate stand plötzlich in der Tür und betrachtete sie grinsend. „Du hast geschlafen!“

      „Hab ich nicht!“, widersprach Lene.

      „Hast du doch! Hast du doch!“ Die Worte skandierend hüpfte Beate auf einem Bein die Treppe hinab.

      „Sag das noch mal, und ich sag, wer dran schuld ist, dass ich so müde bin! Wer mich nachts immer weckt und in mein Bett gekrochen kommt!“, drohte Lene.

      Beate blieb stehen und drehte sich um. Groß und dunkel waren auf einmal ihre Augen. „Tust du nicht!“, bat sie.

      Lene lachte. „Nein, tu ich nicht!“

      Nach dem gemeinsamen Abendessen half Lene der Frau Lehrer beim Abwasch. Ganz schnell machten sie beide, denn jetzt kam gleich der beste Teil des Tages.

      Wie jeden Abend trug der Herr Lehrer den Lehnstuhl ins Schulzimmer neben das Klavier und rückte eine Schulbank dazu. Jeder nahm seinen Platz ein. Die Frau Lehrer im Lehnstuhl. Willi auf ihrem Schoß. Gottfried, der Nächstältere, zu ihren Füßen auf einem Schemel. Lene zwischen Hans und Beate auf der Schulbank. Der Herr Lehrer am Klavier. Einen Augenblick hielt er die Hände schwebend über den Tasten, dann begann er zu spielen. Eine Melodie tauchte auf und verschwand wieder, versteckte sich zwischen den Tönen, klang an, fremd und doch vertraut, ein Vexierspiel. „Kein schöner Land“, flüsterte Beate Lene ins Ohr. Lene nickte und atmete tief: eines ihrer Lieblingslieder.

      Der Herr Lehrer beendete seine Improvisation. Kräftig schlug er nun die Tasten des Chorsatzes. „Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsre weit und breit ...“, tönte es vielstimmig. Lene sang mit den Kindern die Melodie, die Frau Lehrer den Alt, der Herr Lehrer den Bass. Und so folgte Strophe auf Strophe, Lied auf Lied, bis hin zum letzten, dem, das immer den Abschluss bildete: „Der Mond ist aufgegangen, die güldnen Sternlein prangen ...“ Beate schmiegte sich an Lene, sie legte den Arm um die Schultern des Mädchens. Da drückte sich von der anderen Seite auch Hans an sie.

      So könnte es bleiben, immer und ewig, dachte Lene.

      Die Frau Lehrer sprach das Abendgebet. „Und jetzt gute Nacht, Kinder!“, sagte sie.

      „Ach, bitte, Papa, spiel doch noch was!“, bettelte Beate.

      „Ja, bitte, die Mondscheinsonate!“, stimmte Lene ein.

      Er lächelte. „Nun gut, den ersten Satz! Aber danach ist Schluss."

      Er

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