In Berlin vielleicht. Gabriele Beyerlein

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      Der Herr Lehrer verteilte Aufgaben an die Kleinen und Mittleren. Wie ruhig und bestimmt er das tat, sodass gar keinem Kind auch nur der Gedanke kam, ihm nicht zu folgen! Den Rohrstock brauchte er fast nie — ganz im Gegensatz zu Lenes früherem Herrn Lehrer, einem verbitterten Invaliden aus dem 1866er Krieg, unter dessen Knute sie ihre ersten beiden Schuljahre in Angst und Schrecken verbracht hatte. Aber einer wie ihr Herr Lehrer hatte das nicht nötig.

      Nun wandte er sich den Großen zu. Einen Atemzug lang ruhte sein Blick auf Lene. Ihr stieg das Blut in den Kopf — wenn er erriet ...

      „Rechenhefte raus!“, befahl er. „Eine Textaufgabe! Schreibt: 1881 wurde in Berlin die erste elektrische Straßenbahn der Welt eingeweiht.“ Er unterbrach und sah seine in der Bank der Kleinen sitzende Tochter mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Beate! Wenn du schon wieder hier zuhörst, anstatt auf deine Schiefertafel zu schreiben, dann sag uns jetzt, wie viele Jahre das her ist!“

      Beate sprang auf und stellte sich neben die Bank. „Sechs Jahre!“

      „Dein Glück! Und jetzt malst du deine I, verstanden!“ Seine Stimme sollte streng klingen, aber trotzdem war etwas wie ein Lächeln darin, das man merken konnte, wenn man ganz genau hinhörte. Lene hörte sehr genau hin.

      „Weiter! Sie fährt vom Bahnhof der Berlin-Anhaltischen-Eisenbahn zur Haupt-Kadetten-Anstalt in 10 Minuten. Die Entfernung beträgt 2,45 Kilometer. Wie lang braucht die Straßenbahn für 330 Meter?“

      Eine elektrische Straßenbahn? Der Herr Lehrer sprach oft von der Elektrizität und von den Wundern der Ingenieurskunst und davon, dass seine Söhne einmal Ingenieure werden und es weiter bringen sollten, als es ihrem Vater vergönnt gewesen war. Aber Lene konnte sich das alles nicht vorstellen: Lampen, in die man kein Öl füllen musste, und Züge, die auf der Straße fuhren und nicht von einer Dampflokomotive gezogen wurden, und all diese anderen Weltwunder in der Reichshauptstadt, von denen der Herr Lehrer erzählte. Anne hatte das alles mit eigenen Augen gesehen und war vielleicht sogar schon einmal in ihrem schönen Kleid und den Lederstiefeletten in dieser Straßenbahn gefahren. Sie hatte den Kadetten beim Exerzieren zugesehen und war die Prachtstraße Unter den Linden entlang spaziert, von der es ein Bild im Schulbuch gab, und hatte ihren Sonnenschirm über sich gehalten, damit sie schön blass blieb. Bestimmt hatte sie am Straßenrand gestanden und einen Knicks gemacht, wenn der Kaiser in seiner Kutsche vorbeigefahren war, und vielleicht hatte der Kaiser sie angesehen und die Hand zum Gruß gehoben, weil er gedacht hatte, Anne sei eine Dame ...

      „Lene!“, rief der Herr Lehrer sie auf.

      Lene fuhr in die Höhe und stellte sich neben die Bank. Jetzt musste sie die Antwort parat haben, sonst würde er böse auf sie werden, denn er wusste, dass sie im Rechnen gut war, und würde merken, dass sie geträumt hatte, und das sollte er nicht. Ihre Augen flogen über den Hefteintrag. Da stand die Aufgabe, doch keine Lösung. Sie musste so tun, als hätte sie mit der Aufgabe zumindest begonnen. „10 Minuten sind 600 Sekunden“, begann sie. „330 Meter sind 0,33 Kilometer. 600 durch 2,45 mal 0,33 macht ...“

      „Danke, Lene!“ Der Herr Lehrer nickte ihr lächelnd zu. „Grete! Das Ergebnis!“

      Aufatmend setzte Lene sich zurück in die Bank. Er hatte es nicht gemerkt. Mehr noch: Er hatte sie angelächelt!

      Grete wusste das Ergebnis nicht und wurde getadelt. Aber inzwischen hatte Lene mit fliegender Hast die Zahlen gekritzelt und die Rechnung vollzogen, und als der Herr Lehrer sie wieder aufrief, wusste sie das Ergebnis: „Die Straßenbahn braucht für 330 Meter eine Minute, zwanzig Sekunden und 82 Hundertstelsekunden!“

      „Richtig, Lene!“, sagte der Herr Lehrer. Mehr an Lob war von ihm nicht zu erwarten. Aber an seinem Gesicht sah sie doch, dass er mit ihr zufrieden war. Im Rechnen war keiner in der Klasse so gut wie sie, Lene Schindacker, obwohl sie nur nach ihrer Mutter hieß und neun Jahre ihres Lebens im Kuhstall geschlafen hatte.

      Ob man als Fabrikarbeiterin gut rechnen können musste? Vielleicht glich das Rechnen ja die Sache mit dem Namen und dem Kuhstall aus, in Berlin jedenfalls. Hier im Dorf nicht, nein, hier nicht.

      Die nächsten Aufgaben erzählten nichts von Berlin, sie handelten von Kühen, die 217 Liter Milch in der Woche gaben, und von Feldern, für die 13 Kinder 15 Stunden zum Einsammeln der Kartoffeln brauchten, und von anderen langweiligen Dingen, über die zu träumen sich nicht lohnte, und dann war die Schule aus.

      Die anderen Schüler drängten aus dem Schulhaus. Lene musste nur von einem Raum in den nächsten gehen. Und indem sie durch die Tür trat, ihre Schulschürze losband und die blaue Arbeitsschürze vom Wandhaken nahm, legte sie die Schülerin ab und das Dienstmädchen an. Sie hatte sich lange genug ausgeruht. Jetzt begann die Arbeit.

      Das Kopftuch im Nacken knotend, lief sie in die rußgeschwärzte kleine Küche. Die Frau Lehrer stand an der Esse und würzte den Linsenbrei in dem schweren Topf auf dem Dreifuß über dem Feuer. „Pell schon mal die Kartoffeln!“, sagte sie und nickte Lene kurz zu.

      Lene nahm ein Messer und führte den Auftrag aus. Oben im Haus schrie die kleine Hilde. „Ich fürchte, die Hilde braucht eine neue Windel!“, meinte die Frau Lehrer. „Machst du das bitte? Und dann deck den Tisch!“ Lene rannte die Treppe hinauf, nahm die Kleine aus der Wiege, wickelte sie, warf die verschmutzte Windel in den Eimer — er war schon wieder voll, und es war Lenes Aufgabe, die Windeln vorzuwaschen, einzuweichen und auszukochen, das würde sie heute auch noch tun müssen, unmöglich, Anne zu besuchen — und eilte mit Hilde auf der Hüfte die Treppe hinab. Im Wohnzimmer geriet sie in eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen Beate, der Ältesten, und ihren beiden jüngeren Brüdern darüber, wer als Erster den bunten Kreisel mit der Peitsche antreiben durfte. „Ich darf!“, schrie Beate. „Ich geh schon in die Schule!“

      „Nein, ich!“, schrie Hans zurück. „Du bist nur ein Mädchen!“

      Die beiden balgten sich um die kleine Peitsche und rissen sich an den Haaren.

      „Dann darf eben keiner!“, erklärte Lene und nahm ihnen die Peitsche weg. Nun schrien beide zugleich.

      „Was ist denn hier los?“ Der Herr Lehrer war durch die Tür vom Schulzimmer hereingekommen.

      Die Kinder verstummten. „Nichts weiter“, erklärte Lene. „Nur ein kleiner Streit. Das Essen ist gleich fertig. Es gibt Linsen.“ Hastig stellte sie mit einer Hand die Teller auf den Tisch, denn noch immer hielt sie Hilde an sich gepresst.

      „So“, sagte der Herr Lehrer und maß seine Kinder. „Noch einmal so ein Geschrei ...“ Er sprach nicht weiter. Das war auch nicht nötig.

      Beate warf Lene einen verschwörerischen Blick zu. „Ich hol das Besteck!“, sagte sie schnell und rannte.

      Wenig später saßen alle am Tisch, Lene mit der kleinen Hilde auf dem Schoß. Eifrig beugte sie sich zu der Kleinen hinunter. Damit sie nicht in Versuchung kam, den Herrn Lehrer anzuschauen, und damit ihm und der Frau Lehrer nichts auffiel. Denn dass sie nachts an ihn dachte und auch sonst, sooft die Kinder ihr Ruhe dazu ließen, das war ihr Geheimnis und musste es bleiben. Unvorstellbar schrecklich wäre es, wenn das einer merkte.

      Der Herr Lehrer sprach das Tischgebet, die Frau Lehrer teilte das Essen aus. Linsen und Kartoffeln und für den Herrn Lehrer auch noch ein kleines Stück Bauchspeck. Es schmeckte gut, sehr gut. Als Lene ihren Teller leer gegessen hatte, bekam sie noch einmal einen, und dann noch einen, so viel sie wollte. Nebenher fütterte sie Hilde mit zerdrückter Kartoffel und sie dachte daran, wie es wäre, wenn der Herr Lehrer eine Stelle an einer Berliner Schule bekommen würde und sie alle nach Berlin übersiedeln

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