In Berlin vielleicht. Gabriele Beyerlein

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Schindacker!“, hörte sie aus der Ferne die unnachgiebige Stimme des Herrn Pastor. „Wir warten!“

      Sie schluckte, rang um jede Silbe. „Das sechste Gebot“, flüsterte sie. „Du sollst nicht ehebrechen.“

      „Lauter! Wir hören nichts!“

      Sie nahm alle Kraft zusammen, schrie beinahe, Tränen in den Augen: „Du sollst nicht ehebrechen!“

      Sie hörte Unruhe, ein paar Schritte im Kirchgang, aufgeregtes Tuscheln, dann das laute Knarren der Tür, das Zuschlagen, und wusste ohne sich umzudrehen: Es war ihre Mutter, die den Kirchenraum verließ.

      Lene sank auf ihren Stuhl. Sie zitterte am ganzen Körper. Und plötzlich dachte sie: Ich geh weg von hier. Ich geh nach Berlin. Und nie, nie wieder kehr ich zurück.

      „Was willst du?“, fuhr der Herr Lehrer auf. „Nach Berlin in eine Fabrik?!“

      Lene nickte. Nun war es heraus. Und vielleicht, vielleicht hielt er sie zurück und sagte: Dann bleib lieber bei uns!

      „Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen!“, polterte er los und schlug mit der flachen Hand auf den Esstisch, dass die Tassen schepperten. „Willst du etwa in der Gosse landen?“

      „Ich bitte dich, Gotthelf, denk an die Kinder!“, warf die Frau Lehrer ein.

      Lene spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, wie ihr Gesicht zu glühen begann. So hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt, heute, am Tag nach ihrer Konfirmation, heute, am ersten Tag, an dem sie zu den Erwachsenen gehörte. „Wieso denn“, stammelte sie, „Anne ist doch auch in einer Fabrik in Berlin. Sie hat gesagt, sie arbeitet in einer Spinnerei, sie hat ihre eigene Spinnmaschine, da muss sie immer die leeren Spulen aufstecken und die Fäden dran festbinden und die vollen Spulen herunternehmen und so, und überhaupt —“ Lene holte tief Luft. Langsam redete sie sich Mut an, sogar Zorn — es war nicht gerecht von ihm, es war einfach nicht gerecht, sie aus dem Haus zu weisen und ihr dann noch Vorwürfe zu machen, wenn sie ihr Leben selbst in die Hand nahm! „Und überhaupt, ich weiß gar nicht, warum Sie so böse sind! Ich würde ja gerne hier bei Ihnen bleiben, dafür würde ich sogar das andere aushalten hier im Dorf ...“

      Ihre Stimme drohte umzukippen, verzweifelt rang sie um Fassung, nahm einen neuen Anlauf: „Sie sagen doch immer, Arbeit ehrt, und Anne sagt, in der Fabrik verdient man dreimal so viel wie als Magd, und wie das ist, Stall ausmisten und Mist breiten und melken, bis einem die Hände wehtun, und Heuernte und Rüben hacken, das weiß ich, da macht mir keiner was vor! Ich seh's ja an meiner Mutter, mit dreißig hat sie schon einen krummen Rücken, und außerdem will ich nach Berlin!“

      „Ach ja?“, meinte er. „Und wo, bitte, wenn ich fragen darf, willst du wohnen in Berlin?“

      Wohnen? Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie zuckte die Schultern. „Es wird sich schon was finden! Große Ansprüche hab ich ja nicht, ich hab lange genug im Kuhstall geschlafen!“ Herausfordernd blitzte sie ihn an. Und hoffte doch noch immer nichts sehnlicher, als dass er sagen würde: Bleib bei uns!

      Er lachte sarkastisch. „Und da willst du jetzt den Schweinestall draufsetzen, was? Nein, im Ernst, Lene!“ Er machte eine Pause und als er weitersprach, war seine Stimme wieder ruhig und sehr eindringlich: „Du hast keine Ahnung, wie es zugeht unter den Arbeitern in Berlin, was das für eine Not und für ein Elend ist und in was für Verhältnisse du da kommen würdest!“

      „Aber die Anne“, erhob Lene Einspruch.

      „Ja, die Anne! Du hast nur ihr schönes Kleid und ihre feinen Stiefel gesehen! Mädchen, Mädchen, die Anne würde sich lieber die Zunge abbeißen, als hier im Dorf zu erzählen, wie es ihr wirklich geht! Und dabei hat sie es noch gut, denn sie hat einen Bruder mit Familie in Berlin und bei dem hat sie Unterschlupf gefunden. Ganz gleich, mit wie vielen sie das Bett teilen muss, es sind wenigstens Verwandte! Aber du, Lene, meinst du denn wirklich, von den paar Mark, die du in der Fabrik verdienst, kannst du dir eine Kammer nehmen in Berlin? Die Mieten sind so teuer, dass dir die Augen aus dem Kopf fallen würden! Ich sag dir, wie es ausgehen würde: Als Schlafgängerin müsstest du dich bei ...“

      „Schlafgängerin, was ist das?“, fragte der kleine Hans.

      „Bist du wohl ruhig!“, sagte der Herr Lehrer. „Du weißt doch: Kinder haben bei Tisch still zu sein, wenn sie nicht gefragt sind!“ Dann nahm er seine an Lene gerichtete Rede mit großem Ernst wieder auf: „Bei wildfremden Leuten müsstest du dich in irgendeiner düsteren Hinterhofwohnung einquartieren oder in einem feuchten Keller, und da steht dir dann nicht mehr zu als ein Bett, und das nicht einmal für dich allein. Zehn Leute in einer Kammer, Männer, Frauen und Kinder durcheinander, einer steigt über den anderen drüber, und die restliche Zeit würdest du auf der Straße herumhängen und in Kneipen. Die Arbeiter saufen sich in den Destillen die Seele aus dem Leib, und so ein junges, frisches Mädchen wie du — ich kann jetzt hier nicht deutlicher werden vor den Kindern, aber dafür habe ich dich nicht erzogen! Auch wenn ich dir nichts mehr zu befehlen habe, weil ich nicht mehr dein Lehrer bin und nicht mehr deine Herrschaft, ein wahres menschliches Interesse habe ich doch an dir und ich will nicht tatenlos dabei zusehen, wie du vor die Hunde gehst! Also schlag dir gefälligst das mit der Fabrik aus dem Kopf!“

      Lenes Finger krampften sich um den Becher mit warmer Milch, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie konnte auf einmal nichts mehr denken, schaute nur auf die Haut, die sich auf der Milch gebildet hatte.

      „Wir meinen es ja nur gut mit dir, Lene!“, beteuerte die Frau Lehrer. „Du träumst dir immer was zurecht, aber die Wirklichkeit, die sieht anders aus. Wenn du dich nicht beim Lenz-Bauern verdingen willst — es stimmt schon, zur Magd bist du mir eigentlich zu schade. Du hast so eine rasche Auffassungsgabe und musikalisch bist du auch noch. Eine wie du wäre zur Lehrerin begabt, aber das ist ja nun leider nicht möglich, dazu fehlt dir nun mal der familiäre Hintergrund, und wir können die Welt nicht ändern. Aber ich könnte mir dich gut in einer besseren Familie als Dienstmädchen vorstellen. Ich habe gehört, das Hausmädchen von der Frau Pastor wird heiraten. Wenn du willst, rede ich mit der Frau Pastor und empfehle dich. Das kann ich reinen Gewissens tun und dann wissen wir, dass du in guten Händen bist. Und jetzt hol noch mal Brot herein, drei Scheiben!“

      Lene Schindacker!, hörte Lene die Stimme des Herrn Pastor. Das sechste Gebot! Wir warten!

      Nie und nimmer würde sie in dessen Haus gehen. Das war ja noch schlimmer als die Grete Lenz ...

      „Ich hab mir nun mal vorgenommen, ich geh nach Berlin!“, erklärte sie und wunderte sich selbst darüber, wie laut und bestimmt ihre Stimme klang. „Und geschworen hab ich mir, das Dorf hier sieht mich nicht wieder! Weil ich eben bei Ihnen nicht bleiben kann, weil Sie mich nicht mehr ...“ Hastig stürzte sie in die Küche. Dort lehnte sie sich an die Wand und weinte in ihre Schürze.

      Als Lene mit dem Brotkorb in der Hand wieder das Zimmer betrat, sagte die Frau Lehrer: „Dann geh eben als Dienstmädchen nach Berlin! Aber zu anständigen Leuten, mit Familienanschluss! Da hast du eine Unterkunft, freie Kost und Logis, bist den Gefahren der Großstadt nicht schutzlos ausgesetzt und lernst noch etwas in der Haushaltsführung dazu.“

      „Keine schlechte Idee!“, meinte der Herr Lehrer und strich sich den Bart. „So kann es gehen, da kommst du nicht unter die Räder. Ja, Lene, das machst du! Berlin — unsere Reichshauptstadt! Die Museen, die Bibliotheken, die Oper, die Theater! Und nicht zu vergessen: Seine Majestät! Ach, was gäbe ich drum ... „

      Heute hatte sie keinen Blick für das Schloss. Barfuß lief Lene die Allee entlang, fast rannte sie. Schon vor Morgengrauen war sie aufgestanden,

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