Maßstäbe. Helmut Lauschke
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Maßstäbe - Helmut Lauschke страница 4
Die Nachkommen folgen den ersten Siedlern buchstabengetreu. Sie offenbaren ihre Glaubensseite, indem sie die Entrechteten als billigste Arbeitskräfte auf ihren Farmen weiter ausbeuten, sie durch Arbeit vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang erschöpfen und sie und ihre Familien mit Hungerlöhnen am Leben halten, so lange sie für den ‘Landlord’ nützlich sind. Die von ihm gesetzten Arbeitsnormen müssen erfüllt werden. Da lässt der ‘Baas’ nicht mit sich reden, der zur besseren Verständigung den Stock der Belehrung mit sich führt. Fairness auf Gegenseitigkeit versteht der ‘Baas’ nur weiß, alles Schwarze lässt er von vornherein nicht gelten. Will es ein Schwarzer nicht glauben, dann setzt es gleich die Ohrfeige. Einen Arbeitsvertrag oder ein Papier in dieser Richtung gibt es nicht. Ein solches Papier sieht sich der Bur auch nicht an. Wie es der Frau und den Kindern des Schwarzen geht, dafür hält sich der weiße ‘Landlord’ für nicht zuständig. Das gilt auch für den Krankheitsfall und was die Schule betrifft. Doch kommt es vor, dass der ‘Landlord’ den Kranken zum nächsten Hospital für Nichtweiße fährt und die gebrauchte Kleidung der eigenen Kinder an die Kinder der schwarzen Arbeiter weitergibt.
Weil in der Kolonialgeschichte Südafrikas die Zulus verlustreich geschlagen wurden und in kleineren Gefechten auch die Khosas, hielten sich die Buren für stark genug, das Burenreich über dreihundert Jahre zu halten, was ihnen große Ernten, gute Weine und den erträumten Reichtum bescherte. Afrikaans war ihre Sprache und die Sprache der Herrschaft. Dieser Sprache, weil sie so ‘segensreich’ war, setzten die Buren ein großes Denkmal, das als Monument auf einem Hügel am Rande Pretorias errichtet wurde. In die herrschende Burenklasse drängten sich mit der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung als Folge der boomenden Gold- und Diamantenschürfung die Weißen der nichtburischen Herkunft hinein, deren Mutter- und Umgangssprache überwiegend das Englische war, wenn es sich um besonders kapitalkräftige Magnaten handelte. Bei ihnen war es das Geld, was bei den Buren das Land und der Boden war. Was das Englische mit dem Afrikaans verband, war der eiserne Wille, das Land, das zum Nulltarif den vormaligen Eigentümern abgeknöpft worden war, bis auf den Grund und seine Tiefen auszubeuten, wofür Millionen nichtweiße Hände verfügbar gemacht wurden, um für Spottlöhne die Dreck- und Untertagearbeit zu verrichten.
Das Teilen im Herrschen fiel den Buren schwer, die selbst den Weißen, die nicht ihr Afrikaans sprachen, misstrauten, weil sie die Brandzeichen der Hugenotten noch nicht vergessen hatten. So gehörte es zur klassisch burischen Denkweise, dass diesem Klub nur die ‘Auserwählten’ mit der reinen burischen Sprache angehören durften. Das viele Geld der Englischsprachigen machte der burischen Reinheit einen Strich durch die Rechnung, weil sich die Geldsäcke regelrecht in den Klub der Herrschenden einkauften, wogegen die Sprache mit den Wurzeln im Flämisch-Holländischen auch nichts ausrichten konnte. Dennoch blieb die Abneigung gegen andere Sprachen und nicht Afrikaans Sprechende bis auf den Tag bestehen, so wie die tiefe Abneigung gegen alles Katholische bestehen blieb, ob römisch, griechisch oder russisch-orthodox.
Die Glaubens- und Willensstärke und die angeborene Dickschädeligkeit waren burische Merkmale, die beim Denken in längst aus- und festgefahrenen Einbahnstraßen eine Brillentendenz hatten, die vergrößerte, wenn es um die eigenen Belange ging, und verkleinerte, wenn es um die Belange anderer und den Rest der Welt ging. Fleiß und Ausdauer sowie die erdbezogene Gründlichkeit und eine ‘weiß gefärbte’ Frömmigkeit mit einer beispielsuchenden, konsequent eingehaltenen Rücksichtslosigkeit gegen Menschen der nichtweißen Hautfarbe haben dem Burenvolk den Wohlstand gebracht, der ungewöhnlich deshalb ist, weil sie so viel Grundbesitz und Reichtum in Europa mit rechten Dingen nicht erworben hätten. Die Buren haben über das, worüber man ethisch, rechtlich und menschlich anderer Meinung sein kann, bedeutende Prediger, Ärzte, Professoren der calvinistischen Theologie, Wissenschaftler, große Schriftsteller und Künstler hervorgebracht, da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Die Politiker mit der afrikaansen Sprache dürfen aber hier nicht unerwähnt bleiben, die es mit ihrem Erzkonservatismus, der Wagenburgmentalität und der weißen Blindheit durch die konstante Hautfarbenorthodoxie geschafft haben, sich von der großen Völkerfamilie durch das ‘Auserwähltsein’ des Burenvolkes weiter abgesondert zu haben.
Sie waren es, die stets geneigt waren, die schwarze Problematik zu vertuschen, zu verharmlosen oder erst gar nicht zu erwähnen, und wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, von den schwarzen Problemen sprachen, dann setzten sie die weiße Verkleinerungsbrille auf, die in der untersten Schublade der Apartheid für diese Fälle bereit lag. Es war eine speziell präparierte Brille mit dem verschnörkelt breiten Rahmengestell, in das zwei auffallend eng zusammenstehende Gläser im eckigen Querformat eingefasst waren. Diese Gläser standen wie bei der Lupenbrille eng zusammen und drückten von beiden Seiten gegen den Nasensteg. Die so aufgesetzten Gläser verkleinerten anstatt zu vergrößern. Um Unsicherheiten beim Durchblick zu vermeiden und den möglichen Eventualitäten vorzubeugen, waren die Gläser außerdem mit einer dicken Weißschicht überzogen, die jeglichem Abkratzversuch widerstand. Es gehörte zur Routine, dass weiße Politiker vom Burengeschlecht diese Brille in dem Augenblick auf die Nase setzten, wenn sie auf die schwarzen Probleme zu sprechen kamen, und der Redner durch diese Brille nicht schwarz sehen konnte. Und weil er jedes Mal weiß sah, wo er hätte schwarz sehen sollen, glaubten ihm am Ende der Rede die meisten Weißen dieses Weiß, weil auch sie bereits weiß kontaminiert, ja infiziert waren und es schwärzer auch nicht sehen wollten.
Dennoch gab es, wenn auch in der Minderzahl, weiße Zuhörer, deren Zahl mit den Jahren zunahm, die ihre ‘schwarzen’ Bedenken hatten, sich bei solch ‘weißen’ Reden besorgt anschauten und einander zuflüsterten, dass auch dieser Politiker von der weißen Blindheit geschlagen sei. Eine Vorliebe hatten die weißen Präsidenten und ihre getreuen, politisch hörigen und parteizugehörigen, weißen Brillenträger und Gefolgsleute, dass sie Gott in den langgezogenen, einseitig abgestumpften, weiß ‘gestrichenen’ Schmirgelreden beim Namen nannten. Das taten die Schmirgelredner auch dort, wo Gott mit seinem Namen gar nicht angebracht war. So meinten manche kritische Zuhörer, die es ab und zu auch gab, dass es einer Gotteslästerung gleichkomme, wenn sein großer Name mit den großen Lügen in Verbindung gebracht werde. Da im Abstand der Neunerregel das Gesagte wieder gesagt und das Wiedergesagte wieder und wieder gesagt wurde, wurde auch Gott mit seinem Namen so sehr vervielfacht, dass die Vermutung so abwegig nicht war, dass er persönlich hinter der weiß gestrickten und überstrichenen Rede stand, sie zumindest geduldet hat, und sich, wie es der Ghostwriter eben tut, dem der peinliche Ausgang der Rede bekannt sein musste, unsichtbar hielt oder sich schlichtweg hinter der sich ständig wiederholenden, synkopisch gehackten Stakkato-Tretmühle mit den krummer und schiefer werdenden Sätzen, die selbst unter den heftigsten Posaunenstößen und dem tremolierenden Trompetengeschrei nicht besser und gerader wurden, versteckte.
Für einen Mann wie Karl Marx und seine wieder verlassene Lehre, weil die Gleichheit der gerechten Güterverteilung in die Praxis nicht umsetzbar war, gab es im Burentum keinen Platz. Dieser Herr mit den kritisch-bissigen Augen und dem Mosesbart aus dem katholischen Trier, der nicht nur das “Kapital” und andere revolutionäre Schriften verfasste, sondern auch ein profunder Bibelkenner gewesen sein soll, passte nicht in ihre Welt. Das leuchtet ein, denn Karl hätte den Buren bei ihrer Anhäufung von Reichtum und der calvinistischen Ausbeutung der unterdrückten Klasse die marxistischen