Maßstäbe. Helmut Lauschke
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Pfarrer Härtel bekam als Neunzehnjähriger bei der Schlacht um Stalingrad einen Schuss in die rechte Schulter. Seitdem war der rechte Arm gelähmt und funktionslos. Er kam in Gefangenschaft und erlitt im Arbeitslager Dudinka Erfrierungen an den Händen und Füßen. Der kurzgewachsene Vorsitzende mit dem ovalen Parteiabzeichen fragte den Pfarrer im Verhör, das über mehrere Stunden ging, nach den Verletzungen und deren Ursache.
Der Urteilsspruch nach dem “Sonntagsgespräch” war wie folgt: “Pfarrer Härtel, Sie werden aufgrund Ihrer verleumderischen Reden, die gegen die Deutsche Demokratische Republik und ihre Menschen gerichtet waren, zu zwei Jahren Putzarbeit im städtischen Krankenhaus verurteilt. Während dieser Zeit wird Ihnen das Reden von den Kanzeln der Kirchen untersagt.
Begründung: Das Gespräch hat eindeutig und zweifelsfrei erwiesen, dass Sie im Vollbesitz des Geistes waren, als Sie Ihre Kanzelreden vom Stapel ließen, die zur Versöhnung und Verständigung der Menschen nicht nur nicht beigetragen haben, sondern im hohen Maße abträglich waren. Es waren schädliche Reden, die Sie von sich gegeben haben. Von weiteren Beschreibungen der Schädlichkeit Ihrer Reden, wie sie im Gespräch detailliert aufgeführt und erörtert wurden, will ich hier absehen.
Zum Strafmaß: Es ist die geringste Strafe in Anbetracht der von Ihnen begangenen Vergehen gegen die Deutsche Demokratische Republik und ihre Menschen, die Ihnen auferlegt wird. Zur Abmilderung der gewöhnlich für diese Vergehen auszusprechenden Strafe hat beigetragen, dass Ihr Vater als mutiger Antifaschist im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde und dass Sie selbst bereits erhebliche Körperschäden durch den Krieg und seine Folgen davongetragen haben.
Dennoch: Der Verurteilte kann den linken Arm voll bewegen. Den soll er in den zwei Jahren zum Putzen der Krankenhausfenster gebrauchen, dass er beim Blick durch die geputzten Fenster die Deutsche Demokratische Republik in einem anderen Licht und klarer sieht, als er sie bislang gesehen und in seinen verdrehten Reden beschrieben hat. Ganz offensichtlich hat er durch trübe oder sonst wie verschmierte Fensterscheiben geblickt, dass er solch trübe, abstoßende Bilder in seinen Reden von sich gab. Ihm hat die helle Wirklichkeit dieser Republik vor den Augen geflimmert, aber nicht eingeleuchtet.
Damit ist die Sitzung beendet.”
Beim Schlusszeremoniell schrie ihn der Vorsitzende an: “Stehen Sie auf und heben Sie die Hand!” Pfarrer Härtel war vom Vorgang des Verhörs und dessen Ausgang zutiefst erschüttert und erhob sich als Letzter vom Stuhl. Durcheinander und geistesabwesend hob er den linken Arm mit dem narbig verzogenen Handrücken und den verstümmelten Fingern nach oben. Der Faustschluss mit den bizarr stehenden Fingerstümpfen und kontrakten Narben war nicht möglich. So zeigten die unterschiedlich langen Fingerstümpfe mit den hässlichen, derb-weißen Narbensträngen am Handrücken in abstoßend-erschreckender Weise ein lebendes Mahnmal der Geschichte. Dieses Mahnmal des Schreckens und Leidens wurde durch den schlaff herabhängenden, gelähmten rechten Arm noch betont. Pfarrer Härtel stand vor dem kurzgewachsenen Vorsitzenden und seinen über den Kopf hinaus gewachsenen Beisitzern sprach- und hilflos mit dem erhobenen linken Arm wie einer da, der sich linksseitig – weil er es rechtsseitig nicht mehr konnte – ergeben hatte oder mit dem einen erhobenen Arm vor der Erschießungsmauer stand.
Der Vorsitzende, die vier Beisitzer und die Besucher auf den beiden Stuhlreihen – alle mit dem ovalen Parteiabzeichen – ballten die Fäuste an den vorgestreckten rechten Armen und sprachen unisono die Schlussformel in hymnischer Lautstärke: “Es lebe das Proletariat der Arbeit! Es lebe der Sozialismus! Hoch lebe unser Genosse Wilhelm Pieck! Hoch lebe der Führer des Weltproletariats, der große Führer und Genosse Josef Wissarionowitsch Stalin! Hoch lebe die Deutsche Demokratische Republik!”
Die Hospitäler im Norden Namibias sind überfüllt. Es ist Sommer, und die Bullenhitze drückt in den Krankensälen. Ärzte und Schwestern schwitzen in den Untersuchungs- und Behandlungsräumen des “Outpatient department”, wo es die “Klimaanlage” seit Monaten oder Jahren nicht tut oder nicht gibt, oder es der Ventilator für den erhitzten Raum nicht schafft oder wegen eines Stromausfalles zum Stehen gekommen ist. Das Ausmaß des Patientenandrangs vor diesen Räumen ist europäischen Augen ebenso ungewohnt wie die Tatsache, unter afrikanischen Wetter- und anderen erschwerten Bedingungen die vielen Patienten zu untersuchen und zu behandeln oder stationär aufzunehmen. Die Leistungen, die tagtäglich geschafft werden müssen, übersteigen weit die Leistungsanforderungen, die an Ärzte und Schwestern auf der nördlichen Halbkugel unter den unvergleichlich besseren Arbeitsbedindungen gestellt werden.
Die Morgenbesprechung hat keine neuen Erkenntnisse gebracht. Dr. Fernandez verlässt mit den anderen Kollegen und Kolleginnen das Büro des Superintendenten und geht zum Op-Haus. Drei gynäkologische Operationen stehen auf der Liste, die durch Notfall-Kaiserschnitte länger werden kann. Er wechselt im Umkleideraum die Zivilkleidung gegen die grüne OP-Kleidung und nimmt im kleinen Doktors’ Teeraum für eine Tasse Instantkaffee mit dem Chicoréezusatz Platz. Drei afrikanische Kollegen, zwei Nigerianer und ein Ugander sind im Teeraum, die auch mit einer Tasse Instantkaffee zugange sind, ohne sich dabei etwas zu sagen. Sie rühren entweder mit dem Blick auf die Tassen die drei oder vier Teelöffel Zucker mit der Geduld afrikanischer Engel in den Tassen um oder schauen über den kleinen, schmalen, rechteckigen Klubtisch mit der verkratzten und von Kugelschreibern verkritzelten Holzplatte zur anderen Seite über die Köpfe der dort sitzenden Kollegen hinweg gegen die weiß gestrichene Wand mit dem Gelbstich der vielen Jahre des ausgebliebenen Neuanstrichs. Blicke in entgegengesetzter Richtung gehen durch die Fensterfront der Trennwand zum breiten Korridor mit den von dort abgehenden OP-Sälen und Handwaschpassagen. Dr. Fernandez denkt an seine junge Frau und an den dreijährigen Sohn George, die in Matanzas, einer Stadt nicht weit von Havanna entfernt, zurückgeblieben sind. Margarita, seine Frau, hat oft den Wunsch geäußert, auf eine der Auslandsmissionen mitgenommen zu werden, um einmal von der Insel wegzukommen und einen Blick in den Rest der Welt tun zu können. Dabei sind es die Länder der Dritten Welt, wohin die kubanischen Exportartikel als Ärzte, Lehrer und Landbauexperten geschickt werden.
Da in der Vergangenheit Kubaner nicht mehr nach Kuba zurückgekehrt sind, sondern sich in andere Länder wie Angola, Portugal, Kanada oder den Vereinigten Staaten als politische Flüchtlinge abgesetzt haben, sind die Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung solcher Grenzüberschreitungen drastisch erhöht worden. Es ist den ‘Export’-Kubanern untersagt, ihre Frauen oder ihre Frauen und Kinder auf die Reise mitzunehmen. Ähnliches gilt für die ‘Export’-Kubanerinnen, die Mann und Kind auf der Insel des Sozialismus zurückzulassen haben. Die Reisepässe werden von der kubanischen Botschaft einbehalten. Auf den Flügen von und zur Heimatinsel werden die Pässe der Kubaner von der ‘system-zuverlässigen Reisebegleitung’ verwahrt. Ob die Person mit den eingesammelten Pässen in den Händen oder in der Tasche auch vom Grenzübertritt in die Freiheit träumt oder an ein Leben ohne den orthodox erstarrten Inselsozialismus denkt, ist eine Vermutung, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Dr. Fernandez fragt sich auch, ob afrikanische Ärzte leistungsbezogen den kubanischen ‘Exportartikeln’ vergleichbar sind. Doch sind die Länder, aus denen die schwarzen Kollegen kommen, schon lange unabhängig. Oder ist es gerade die seit langem bestehende Unabhängigkeit